Marvel's Avengers ist kein gutes Loot-Spiel. Aber mit seiner Kampagne bewahrt es sich vor der Bedeutungslosigkeit.
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Test: Nicht so schlimm wie befürchtet
Hey, Square Enix! Was hast du dir eigentlich beim Marketing von Marvel's Avengers gedacht? Du hast es uns die ganze Zeit über als ein Spiel präsentiert, das uns möglichst lange beschäftigen soll mit…Beschäftigungstherapie. Der Eindruck im Vorfeld war glasklar: "Das will das nächste Destiny sein." Das wäre nicht schlimm gewesen, wenn denn das Gameplay und die gesamte Progression interessant gewirkt hätte. Aber nichts davon war der Fall. Unsere Erwartungen waren daher sehr niedrig.
Doch da war uns noch gar nicht recht bewusst, dass Marvel's Avengers auch eine richtige Story-Kampagne hat, die ihr an einem Stück durchspielen könnt, um das Spiel dann wieder zur Seite zu legen und euch einem anderen zu widmen – so wie es bei fast all den Titeln der Fall ist, die kein Live-Service sein wollen. Das lag daran, dass Square Enix im Vorfeld nicht viel Wert daraufgelegt hat, zu betonen, dass es diese ausgeprägte Kampagne hat. Klar, es wurden Ausschnitte aus Zwischensequenzen gezeigt. Die Auftaktmission war das allererste Gameplay-Material, das der Publisher präsentiert hat. Aber so richtig wollte nie rüberkommen, dass man Marvel's Avengers nur für die Geschichte spielen kann. Die gute Nachricht ist: Das geht tatsächlich! Und das bewahrt es davor, das nächste Anthem zu sein.
Ein historischer Tag
Die Geschichte von Marvel's Avengers beginnt mit dem A-Day. Das klingt wie ein Feiertag, an dem zelebriert wird, wie oft die Avengers schon die Welt gerettet haben, und es fängt auch alles mit einer großen Feier in San Francisco an, nimmt aber einen besonders dramatischen Verlauf. Terroristen greifen an, die Recken stellen sich ihnen entgegen, können aber nicht verhindern, dass mehr oder weniger die ganze Stadt zerstört wird. Die Schurken missbrauchen dafür einen Hubschrauberträger der Guten, der von einer umstrittenen Technologie angetrieben wird. Durch deren Entladung erlangen viele Menschen übernatürliche Kräfte und werden zu den Inhumans. Die Avengers werden für den Vorfall verantwortlich gemacht. Das führt dazu, dass ihnen ihre Aktivitäten untersagt werden und sie von einem Großteil der Bevölkerung geächtet werden.
Währenddessen übernimmt ein böser Konzern namens A.I.M. mehr oder weniger die Macht – mit der Einverständnis der Regierung wohlgemerkt. Er gibt vor, die Inhumans heilen zu wollen, hat aber in Wahrheit finstere Absichten. Die junge Kamala Khan, die selbst am A-Day in San Francisco war und besondere Kräfte erhalten hat (sie kann ihre Gliedmaßen wie Mr. Fantastic extrem weit ausdehnen und ihre Größe verändern), traut A.I.M. nicht, kommt dessen Machenschaften auf die Schliche und setzt fünf Jahre nach dem schrecklichen Ereignis an der US-Westküste alles daran, die Avengers wieder zu vereinen.
Sympathische Protagonistin
Butter bei die Fische: Die Geschichte von Marvel's Avengers ist nicht preisverdächtig. Es ist ein 0815-Superhelden-Plot und würde sich im Vergleich mit den ganzen Marvel-Kinofilmen eher in deren unterem Drittel, bestenfalls im Mittelfeld einordnen. Das PlayStation-exklusive Marvel's Spider-Man von Insomniac Games ist in dieser Disziplin deutlich besser. Auf erzählerischer Ebene ist Marvel's Avengers Kampagne trotzdem unterhaltsam, was vor allem an Kamala alias Ms. Marvel liegt. Sie ist enorm sympathisch, weil sie selbst ein riesiger Avengers-Fan ist. Wenn sie am Anfang des Spiels das erste Mal persönlich auf Thor trifft und nach dem Gespräch mit ihm vor Freude springt (wenn die eigentliche Zwischensequenz bereits vorbei ist), ist das herzallerliebst.
Hinzu kommen die soliden Dialoge zwischen den Charakteren. Wenn Kamala mit ihrem Vater spricht, der sehr liebevoll zu ihr ist, dann nehmen wir den beiden vollkommen ab, dass sie eine enge Vater-Tochter-Beziehung haben. Auch die Interaktionen zwischen Kamala und den Avengers wissen zu gefallen. Hier und da kommt sogar der typische Humor der Kinofilme zum Vorschein. Beispiel gefällig? Die junge Dame sitzt zusammen mit Bruce Banner im Auto, saugt sekundenlang am Strohhalm ihres XXL-Getränkebechers, die beiden reden kein Wort miteinander und dann schaltet sie auf einen Radiosender mit fröhlicher, lauter Popmusik um, was der Wissenschaftler ratzfatz wieder rückgängig macht, weil er darauf gar keine Lust hat. Da mussten wir schon (durchaus laut) schmunzeln.
Fast auf Filmniveau
Überhaupt kann man Marvel's Avengers in Sachen Inszenierung keine Vorwürfe machen. Die Cutscenes sehen toll aus, was vor allem am guten Performance Capture liegt, und auch während so mancher Mission gibt es spektakuläre Skriptsequenzen, mit denen wir so im Vorfeld gar nicht gerechnet hatten.
Dazu kommen ein ordentlicher Soundtrack, auch wenn wir schon das Avengers-Thema aus den Filmen vermisst haben (das Spiel hat eben nur die Comiclizenz), und eine sehr gute Sprecherriege – zumindest im englischen Original. Nolan North (Nathan Drake aus Uncharted) als Tony Stark/Iron Man, Troy Baker (Joel aus The Last of Us) als Bruce Banner, Laura Bailey (Kate Diaz aus Gears of War) als Black Widow – hier ist die Creme de la Creme der US-Synchronstimmen zu hören. Auch Sandra Saad als Kamala macht eine sehr gute Figur. Die deutsche Vertonung ist von diesem hohen Niveau leider weit entfernt, sodass wir euch nur empfehlen können, mit englischer Sprachausgabe und deutschen Untertiteln zu spielen.
Fader Vorgeschmack auf das Endgame
Spielerisch ist die Kampagne von Marvel's Avengers ein zweischneidiges Schwert. Es gibt die großen Highlight-Missionen, die sehr stark mit Skriptereignissen arbeiten und deshalb auch viel Laune machen. Aber Teile der Story bestehen auch aus Aufträgen, die euch schon mal damit bekannt machen, was euch nach dem Abspann erwartet: recht generische Koop-Quests, in denen ihr zum Beispiel einen Kontrollpunkt erobern und ein paar Minuten über halten müsst, während euch massenweise Gegner angreifen.
Die sogenannten "Warzones" erweisen sich zwar als weitläufige, aber auch ziemlich langweilige Levels, die abseits davon, dass ihr dort etwa Kisten mit Loot finden könnt, keine Erkundungsanreize bieten. Und auch die A.I.M.-Anlagen, durch die ihr euch oftmals prügelt, sind reichlich uninspiriert. So schick gestaltete Umgebungen wie in Destiny 2 – um mal im Bereich der Loot-orientierten Actionspiele zu bleiben – gibt es nicht.
Das "Problem" aller Loot-Spiele
Da ist es keine große Hilfe, dass Marvel's Avengers spielerisch sehr eintönig ist. Es gibt zwar hier und da kleine Geschicklichkeitseinlagen, in denen ihr etwa als Kamala von Dach zu Dach springt, die sind aber reichlich anspruchslos. Der Schwerpunkt liegt auf den Kämpfen. Nun steht der Titel damit innerhalb der Sparte der Loot-Shooter oder eben Loot-Slasher nicht allein dar. Destiny, The Division, Anthem, Borderlands, Diablo: In all diesen Spielen seid ihr fast nur damit beschäftigt, gegen Horden von Feinden zu kämpfen. Wichtig ist, dass dieser Vorgang, der sogenannte Gameplay-Loop, jedes Mal aufs Neue Spaß macht. Fast alle Titel haben das geschafft, nur Anthem nicht.
Marvel's Avengers gelingt das…zur Hälfte. Die Gefechte sind recht nahkampffokussiert. Jeder der sechs zum Start spielbaren Superhelden (Ms. Marvel, Iron Man, Hulk, Captain America, Black Widow und Thor) verfügt über Fernangriffe und im Fall der S.H.I.E.L.D-Agentin sowie des Multimilliardärs mit seinem Kampfanzug sind die auch etwas wichtiger, aber ihr werdet eben doch viel mehr zuschlagen als um euch ballern.
Die gute Nachricht: Das spielt sich ganz ordentlich. Das Trefferfeedback ist ordentlich, die Animationen und Sounds vermitteln hervorragend, mit welcher Power etwa der Hulk mit seinen Riesenfäusten und Thor mit seinem Hammer auf Feinde eindreschen. Zudem geht die Steuerung mit dem Gamepad richtig gut von der Hand. Mit Maus und Tastatur prügelt es sich auch ordentlich, aber das Spiel ist schon auf das typische Konsoleneingabegerät ausgelegt. So spaßig die Kämpfe auf kurze Sicht aber auch sind, auf lange mangelt es dem System an Tiefgang, daran können auch die verschiedenen Charaktere nichts ändern.
Solide, aber auch nicht mehr
Die sechs Heroen spielen sich an sich unterschiedlich. Kamala etwa ist deutlich agiler als der Hulk und hat eine größere Angriffsreichweite, während Iron Man und Thor fliegen können. Über das umfangreiche Skill-System jedes Charakters lassen sie sich auch spezialisieren, wobei ihr das während der Kampagne gar nicht komplett ausschöpfen könnt. Dafür ist sie mit zehn bis zwölf Stunden Spielzeit nicht lang genug. Letztendlich ist aber doch deutlich zu spüren, dass alle Helden auf den gleichen Grundmechaniken basieren. So divers wie die Klassen in Borderlands 3 spielen sie sich nicht und es fehlt auch eine klassische Rollenverteilung, was vor allem in Hinblick auf den Multiplayer und somit das Endgame kein Pluspunkt für Marvel's Avengers ist.
Schade ist auch, dass ihr hauptsächlich gegen die Roboter von A.I.M. kämpft. Rein aus mechanischer Sicht gibt es zwar eine ordentliche Anzahl an Gegnertypen, aber optisch sind die Widersacher ziemlich langweilig. Auch das trägt dazu bei, dass dem Titel schnell die Puste ausgeht (bezogen darauf, wie lange er eigentlich unterhalten möchte, nicht bloß auf die Kampagne). Immerhin erweisen sich aber die Bosskämpfe in der Story als Highlights. Die sind spektakulär in Szene gesetzt und weisen auch nette Mechaniken auf. Die Klasse eines Destiny 2 oder Borderlands 3 erreicht Marvel's Avengers aber nicht.
Wenn das Looten nicht motiviert
Nun haben wir schon so viel zu diesem Loot-Spiel geschrieben, ohne konkret auf den Loot einzugehen. Das holen wir fix nach: Das Ausrüstungssystem in Marvel's Avengers ist das Schlechteste, was das Genre zu bieten hat. Das heißt nicht, dass es eine totale Katastrophe ist. Aber fragt euch selbst: Würdet ihr Diablo 3 über das Ende der Kampagne hinaus spielen, wenn sämtliche Rüstungsteile und Waffen euren Charakter optisch nicht verändern würden? Genau das ist hier der Fall. Egal ob Armreifen für Kamala, Handschuhe für Iron Man oder Brustplatten für Thor, nichts davon seht ihr am jeweiligen Helden. Die Gegenstände wirken sich nur spielerisch aus.
Doch leider ist das Loot-System in Marvel's Avengers auch in dieser Hinsicht längst nicht so motivierend wie bei der Konkurrenz. Ja, es gibt für jeden Recken ein paar nützliche Perks, die ihr nur durch entsprechende Ausrüstung erhaltet. Zum Großteil erhöhen die Items jedoch nur Prozentwerte und steigern euren Powerlevel. Und wenn sich der Fund eines neuen Rüstungsteils nicht so wertvoll anfühlt wie etwa der einer neuen Waffe in einem Dark Souls, ist es umso kritischer, dass es nicht mal für eine coole Optik sorgt.
Endgame geben wir uns dann doch lieber als Film
Dementsprechend wenig motiviert waren wir nach Abschluss der Kampagne, die Koop-Missionen zu spielen und uns dem Grind hinzugeben. Das, was den größten Teil von Marvel' Avengers ausmacht und worauf Square Enix im Marketing so viel Wert gelegt hat, ist der schwächste Aspekt des Spiels. Das lahme Missions- und Umgebungsdesign, das missratene Loot-System und die Mängel des Kampfsystems sorgen dafür, dass all das, was sich hinter dem Begriff "Avengers Initiative" im Hauptmenü verbirgt, eure Zeit nicht wert ist.
Marvel's Avengers hätte kein Live-Servicegame werden dürfen. Das Konzept passt schlicht nicht zu der Marke. Es ist so deutlich, dass Square Enix die Absicht hatte, so viel Geld wie möglich mit der Lizenz zu verdienen. Und wie macht man das heutzutage? Richtig! Indem man auf das "Games as a Service"-Konzept setzt und das Spiel mit Mikrotransaktionen vollstopft. Wer will, kann viel Geld für einzelne Kostüme ausgeben. Noch dazu gibt es für jeden einzelnen Helden einen Battle Pass. Immerhin sind diese sogenannten Herausforderungskarten für die sechs derzeit spielbaren Figuren im Kaufpreis inklusive. Aber für kommende Charaktere wie Hawkeye und den PlayStation-exklusiven Spider-Man, die an sich kostenlos sein werden, werdet ihr Geld in die Hand nehmen müssen, möchtet ihr deren Pässe haben.
Die Mikrotransaktionen an sich wären kein riesiges Problem, da sie nur auf Kosmetik beschränkt sind und dafür kommende Helden, Missionen, Levels und Co gratis sein werden. Aber dadurch, dass der Loot keine optischen Auswirkungen hat, hat das Geschäftsmodell einen faden Beigeschmack. Und dass die spielerische Qualität im Endgame auch nicht sonderlich hoch ist, macht die Gesamtsituation nicht besser.
Noch etwas roh
Zuzüglich aller bislang beschriebenen Probleme leidet Marvel's Avengers auch noch an einer unausgereiften Technik. Die Grafik ist gut, vor allem die Charaktere und deren Animationen sehen schick aus. Aber die Performance ist nicht ideal: Auf unserem Testrechner (Intel i7 7700K, 16 Gigabyte Arbeitsspeicher, GeForce RTX 2070 SUPER) kam es hin und wieder zu Einbrüchen der Bildrate – nicht so, dass es unspielbar geworden ist, jedoch waren sie trotzdem spürbar. Zudem gibt es Bugs. Manche davon sind rein visuell, etwa wenn wir als Hulk Betonbrocken durch die Gegend werfen und dann sozusagen Kopien von ihnen in der Luft hängen bleiben. So etwas sollte in einem fertigen Spiel nicht drin sein, stört allerdings nicht sonderlich.
Problematisch wird es, wenn wir gegen einen Boss kämpfen, der nach einer halben Minute einfach spurlos verschwindet. Beim ersten Mal waren wir noch ganz verwundert, fragten uns gar, ob wir nicht aufgepasst haben und der Feind sich irgendwo versteckt hat. Blöderweise ging es dann nicht weiter, also haben wir neugeladen – und der Boss ist wieder verschwunden. Schlussendlich half es nur, das Spiel zu beenden und neu zu starten.
Fazit
So komisch das klingen mag, aber Marvel's Avengers profitiert davon, dass wir so niedrige Erwartungen hatten. War das etwa von Square Enix beabsichtigt?! Vermutlich nicht. Aber tatsächlich sind wir dadurch insgesamt positiv überrascht. Dass das Spiel eine komplette Story-Kampagne bietet, die mit schicker Inszenierung, einer sympathischen Hauptfigur und einigen coolen Momenten punktet und sich am Stück durchspielen lässt, hatten wir nicht erwartet. Der ganze Servicegame-Teil hingegen ist genauso mies, wie wir es uns vorgestellt haben. Den solltet ihr schlicht ignorieren.
"Aber lohnt sich der Kauf zum Vollpreis dann überhaupt?" Nein! Fans der Comics und Filme sollten auf einen Sale warten. Wenn Marvel's Avengers mal 30 Euro kostet und ihr Lust auf kurzweilige, nett präsentierte Action mit euren Lieblingssuperhelden habt, könnt ihr ruhig zugreifen. Jedoch führt dieser Umstand auch vor Augen, wie schade es ist, dass Entwickler Crystal Dynamics nicht einfach nur ein cooles Singleplayer- und Koop-Abenteuer ohne den ganzen Live-Service-Ballast machen durfte. Das hätte deutlich besser zur Marke gepasst und wäre garantiert ein hochwertigeres Spielerlebnis geworden.
- Sympathische Hauptfigur
- Sehr gute englische Vertonung
- Gut inszenierte Kampagne
- Sehr ordentliche Optik
- Spaßige Kämpfe,...
- ...denen es auf Dauer an Tiefgang mangelt
- Mieses Loot-System
- Generische Koop-Missionen
- Schlechtes Leveldesign
- Performance nicht ideal
- Viele kleine und größere Bugs