Können wir bitte mal darüber reden, dass Pokémon-Legenden: Arceus nicht der AAA-Titel ist, der es sein sollte?
Pokémon-Legenden: Arceus mag gut sein, ist aber trotzdem peinlich
Hach, Pokémon! Im Kern mag ich dich eigentlich. Ich, Jahrgang 1989, gehöre zu der Generation, die mit dir groß geworden ist. Ich habe damals die Rote und Blaue Edition auf dem Game Boy gespielt. Ich habe die Zeichentrickserie geliebt. Ich habe die Sammelkarten gesammelt und trauere heute noch meinem Bisaflor nach, das mir irgendwer in der Schule geklaut hat. Und ja, ich hatte auch ein sprechendes Plüsch-Pikachu. Heute mit 32 ist mein Verhältnis zu Pokémon ein ganz anderes. Jahrelang konnte ich keines der Spiele zocken, weil ich nach dem Game Boy nie wieder selbst einen Nintendo-Handheld besessen habe. Und als dann Schwert und Schild für die Switch herauskamen, war ich wie viele andere schwer enttäuscht. Circa anderthalb Jahre später kündigte Game Freak Pokémon-Legenden: Arceus an, das den großen Fortschritt bringen sollte, den ich mir von der achten Generation erhofft hatte und nicht bekam. Tja, und dann sah ich das erste Gameplay-Material …
"Boah, ist das hässlich!", waren sicherlich nicht nur meine ersten Gedanken. Es lässt sich nicht abstreiten, dass das Spin-off (es mag kein kleines Nebenprojekt von Game Freak sein, aber es ist eben auch nicht die neunte Generation) grafisch alles andere als gelungen ist. Ja, die Nintendo Switch ist eine vergleichsweise schwache Konsole. In dem handlichen Gerät steckt Hardware, die es nicht einmal mit einer normalen PlayStation 4 oder Xbox One aufnehmen kann. Aber sie hat schon oft genug bewiesen, dass sie mehr zu leisten im Stande ist als das, was uns Pokémon-Legenden: Arceus präsentiert. Man schaue sich nur mal The Legend of Zelda: Breath of the Wild an – und das ist a) nicht nur ein Launch-Titel, der schon sechs Jahre auf dem Buckel hat, sondern auch b) ursprünglich noch für die Wii U entwickelt worden. Von Monster Hunter Rise oder der gelungenen Portierung von The Witcher 3: Wild Hunt will ich gar nicht erst reden.
Kurzum: Nahezu alles, was kein billiges Indie-Spiel für fünf Euro ist (und damit meine ich die wirklich billigen, schlechten Titel, nicht den guten Indie-Kram) sieht besser aus als das neue, große Pokémon-Spiel – der jüngste Eintrag in der Geschichte der größten Entertainment-Marke der Welt. Und genau deswegen ist es eine so große Peinlichkeit, die man meiner Ansicht nach nicht auch noch mit einem Kauf zum Vollpreis belohnen sollte.
Die Grafik ist eine Frechheit
Ja, ich weiß, Pokémon-Legenden: Arceus ist ganz bestimmt kein schlechtes Spiel. Der Metascore liegt bei 84. Bei uns im Test hat es vier von fünf Sternen erhalten. Manche Magazine haben dem Titel sogar eine Note jenseits der 9 respektive 90 gegeben. Von solch extrem hohen Wertungen halte ich in dem Zusammenhang absolut gar nichts. Mir kann keiner erzählen, dass Arceus auf dem gleichen Niveau wie ein Breath of the Wild ist. Nun habe ich es selbst nicht gespielt (also Arceus) und bin daher eigentlich nicht in der Lage, es bewerten zu können. Ich habe selbst nicht die Erfahrung gemacht, wie spaßig das Gameplay ist und wie gut die Geschichte funktioniert – und ich rechne damit, dass mir zumindest ersteres auch Freude bereiten würde, würde ich es selbst ausprobieren.
Es gibt jedoch sehr wohl Dinge, die ich anhand dessen, was ich von Pokémon-Legenden: Arceus gesehen und von Kollege Nico, der es getestet hat, gelesen und gehört habe, bewerten kann – zumindest für mich persönlich. Dass die Grafik dazugehört, liegt wohl auf der Hand. Ich muss nicht selbst stundenlang durch die Hisui-Region gewandert sein, um mir einen Eindruck von der Optik verschaffen zu können. Und es sind sich auch nahezu alle Kritiker weltweit einig, dass sie nicht die Stärke des Spiels ist.
Es ist richtig so, dass die Grafik von allen Seiten kritisiert wird. Was ich jedoch vermisse, ist eine Auseinandersetzung damit, wie ausgerechnet dieser Titel so hässlich sein kann. Wie bereits erwähnt, ist Pokémon die größte Marke, die es im Entertainment-Bereich gibt und Pokémon-Legenden: Arceus zwar nicht der jüngste Hauptteil der Reihe, aber eben auch alles andere als ein Lückenbüßer zwischen Generation 8 und 9. Es wurde ja auch nicht von irgendeinem Entwickler gemacht, sondern von Game Freak, den Pokémon-Erfindern, einem Unternehmen mit weit über 100 Mitarbeitern. Ja, es gibt bedeutend größere Studios, aber eben auch kleinere – und die liefern technisch bessere Werke.
Ein Beispiel, auf das ich auch in Diskussionen rund um gute und schlechte Open Worlds und wie viele Ressourcen man für ersteres benötigt, immer wieder gerne zurückgreife, ist Piranha Bytes. Der eine oder andere wird an dieser Stelle schmunzeln, immerhin steht deren zuletzt veröffentlichtes Spiel Elex 2 nicht gerade für gute, zeitgemäße Grafik – und der am 1. März erscheinende Nachfolger auch nicht. Aber ist es nicht bezeichnend, dass ein Team von um die 30 Leuten aus Essen trotzdem noch etwas Ansehnlicheres auf die Beine stellt als Game Freak? Und wer von den beiden hat wohl die größeren finanziellen Ressourcen? Die Ruhrpott-Truppe, die nach 20 Jahren immer noch vom Gothic-Ruhm zehrt oder die Japaner, die mit Nintendo zusammenarbeiten und seit 1996 so erfolgreich sind, dass die Pokémon-Marke einen geschätzten Wert von über 100 Milliarden US-Dollar hat?
Erklärungsnot
Ich stelle mir immer noch die Frage, warum Pokémon-Legenden: Arceus so mies aussieht. Die Switch kann mehr, an der Hardware liegt es also nicht. Ist es vielleicht die verwendete Engine? Könnte das im Kern immer noch genau die sein, die die 3DS-Pokémon-Spiele angetrieben hat und aus der einfach nicht mehr herauszuholen ist? Dann verstehe ich nicht, warum man sie nicht längst ersetzt hat.
Oder hat es viel mehr damit zu tun, dass Game Freak schlicht keine bessere Optik abliefern kann? Immerhin hat das Studio über Jahrzehnte hinweg fast nur Handheld-Spiele entwickelt. Aber dann schaue ich mir die "Let's Go"-Titel an und merke: Ne, das kann eigentlich nicht sein. Gut, die haben keine so großen, offenen Areale wie Pokémon-Legenden: Arceus und bedienen sich der Top-Down-Perspektive. Aber der grafische Unterschied zwischen diesen Spielen ist einfach zu groß.
Eine leere Open World ist nie akzeptabel
Ich finde aber nicht nur die schwache Technik peinlich, sondern auch das Design der Spielwelt. Die ist für mich sogar der Hauptgrund dafür, dass ich einige Testnoten für zu hoch halte, wobei hier auch die Wertungsinflation eine Rolle spielt. Nochmal: Ich habe Pokémon-Legenden: Arceus nicht selbst gespielt, aber die vielen Gameplay-Videos, die ich mir angeschaut habe, und die Aussagen von Nico in unserem Test bestätigen nur das, was ich mir schon beim ersten Trailer gedacht habe: Diese (Semi-)Open-World ist einfach zu karg, zu leer und bietet nichts Interessantes zum Entdecken. Klar, der Hauptanreiz, in die Wildnis zu gehen, sind natürlich die Pokémon und man freut sich bestimmt sehr darüber, wenn man ein seltenes Monster findet und dann auch eingefangen bekommt. Aber dafür allein brauche ich keine offenen Areale.
Wäre Pokémon-Legenden: Arceus wirklich so stark missionsbasiert wie Monster Hunter, das offensichtlich ein großes Vorbild für Game Freak bei der Entwicklung war, würde ich mich über diesen Kritikpunkt weniger aufregen. Ja, auch dann wäre die Kargheit der Umgebungen, die einfach lieblos gemacht sind und deshalb eben nicht nur auf technischer Ebene schlecht aussehen, ein Problem. Monster Hunter: World und Rise bieten schließlich organisch wirkende Gebiete mit teilweise tollen Panoramen. Aber ich würde nicht so stark darüber meckern, dass es auf den Maps zu wenig spannende Inhalte zu entdecken gibt. Erkundung spielt in Monster Hunter einfach keine große Rolle, denn abseits der Expeditionen (die aber eher ein Bonus als ein elementares Feature sind) geht ihr in die Gebiete, um immer explizit eine Mission zu erfüllen, inklusive Zeitlimit und Zwangsrückreise ins Dorf nach Abschluss der erfolgreichen Jagd.
Pokémon-Legenden: Arceus hingegen folgt abgesehen davon, dass es keine zusammenhängende Spielwelt bietet, den Gesetzen eines typischen Open-World-Abenteuers: Ihr nehmt eine neue Hauptmission in Jubeldorf an, könnt dann aber machen, was ihr wollt. Ihr könnt beispielsweise erst mal in eine andere Zone gehen, sofern ihr bereits mehrere freigeschaltet habt, und dort Nebenquests erfüllen oder euch einfach so auf Monstersuche begeben. Arceus ist im Kern ein Open-World-Spiel, ganz anders als Monster Hunter. Deshalb ist es umso unverständlicher, dass es in den Gebieten keine interessanten Orte gibt. Ja, ihr könnt ein paar Höhlen durchstreifen, aber darin findet ihr eben auch nichts Besonderes.
Die Sache mit der Erwartungshaltung
Vielleicht erwarte ich hier zu viel von einem Pokémon-Spiel. Aber nein, halt! Den Weg beschreite ich jetzt nicht, denn das ist ja totaler Irrsinn. Wie kann man denn sagen, dass man von einem neuen großen Sprössling der erfolgreichsten Medienmarke der Welt nicht zu viel erwarten sollte? Nach der Logik hätte ja niemand von Cyberpunk 2077 enttäuscht sein dürfen, denn die Marke ist bedeutend kleiner. Und für dessen Entwickler CD Projekt ist ein Spiel mit Zukunftsszenario, Shooter-Gameplay und fahrbaren Autos übrigens auch etwas komplett Neues gewesen, so wie nun die Open World für Game Freak. Ok, Pokémon-Legenden: Arceus ist nicht so verbuggt und unfertig designt. Wobei …
Wenn ich genau darüber nachdenke, könnte die Spielwelt auch nur ein Prototyp sein, ganz nach dem Motto: "Wir haben jetzt die Kernspielmechaniken alle fertig entwickelt, das Konzept steht, es funktioniert und jetzt gestalten wir die Umgebungen schön aus." Tja, nur Letzteres hat Game Freak nicht gemacht – warum auch immer. Vielleicht hat man das nicht als wichtig erachtet, weil es den Spielern, die zu einem großen Teil Kinder sind, nur darum geht, Pokémon zu fangen und für die die Welt selbst keine so große Rolle spielt. Wenn es Spieler gibt, die so denken, und sie Spaß mit dem Spiel haben, freue ich mich für sie. Aber ich erwarte nicht nur von Pokémon, sondern generell von Open-World-Spielen mehr. Viel mehr!
Die Erkenntnis: Boykott muss es sein!
Ich sehe es ein, dass sehr viele Leute mit Pokémon-Legenden: Arceus Spaß haben. Dagegen kann ich ja schlecht argumentieren. Mir leuchtet nur nicht diese extreme Euphorie ein. Schön und gut, dass Game Freak endlich mal was Neues gemacht und sich von alten Mustern losgelöst hat. Aber die Qualität ist dabei in Teilen auf der Strecke geblieben. Und wenn ich zu der miesen Grafik und der langweiligen, lieblosen Spielwelt noch hinzuaddiere, dass es mal wieder keinerlei Sprachausgabe gibt, kann ich nur zu einem Schluss kommen.
Pokémon-Legenden: Arceus ist kein AAA-Spiel und auch keine 60 Euro wert. Ja, die Marke ist riesig, aber das gilt auch für Candy Crush. Kosten die Knobelspiele von King/Activision/bald Microsoft deshalb den Vollpreis? Nein, natürlich nicht. Game Freak, The Pokémon Company und Nintendo wollen uns hier aber ernsthaft weismachen, dass Arceus ein Titel ist, der in der gleichen Kategorie wie Breath of the Wild spielt. Doch weiter entfernt könnte man von der Realität kaum sein. Das Spiel ist qualitativ auf dem Level von kleinen Indie-Produktionen und dafür den Vollpreis zu verlangen, halte ich schlicht für unverschämt. Kaufen werde ich es mir unter diesem Umständen ganz bestimmt nicht.
Aber mit der Meinung gehöre ich offensichtlich zur Minderheit, denn siehe da: Wenig überraschend ist Pokémon-Legenden: Arceus ein voller Verkaufserfolg. Und genau das bereitet mir schon Sorgen für kommende Pokémon-Spiele. Glaubt irgendwer, dass die neunte Generation oder ein Pokémon-Legenden 2 große Verbesserungen bieten wird? Die Vergangenheit hat gezeigt: Game Freak ist diesbezüglich eher zurückhaltend. Der Traum vom "Breath of the Wild"-artigen Pokémon-Spiel, den ich wie viele habe, wird wohl weiterhin eben nur ein Traum bleiben. Dabei müsste Game Freak genau das jedoch endlich mal liefern, wenn man nicht noch länger den Status der Pokémon-Marke selbst untergraben möchte.