Momentan ist Lost Ark nur einem bestimmten Spielertyp zu empfehlen.
Wer kein Noah ist, sollte was anderes spielen
Ein Spieler, nennen wir ihn Noah, mag Lost Ark, das MMORPG aus dem Hause Amazon, eigentlich sehr. Seitdem sich das Problem mit den langen Serverwarteschlangen in Luft aufgelöst hat, hat er jeden Tag mehrere Stunden gespielt und sich an den wuchtigen Kämpfen mit ihren stylisch in Szene gesetzten Fähigkeiten erfreut. Er kann außerdem der Story etwas abgewinnen. Klar, den reinen Plot empfindet er eher als Fantasy-Standard, weshalb er ihn kaum interessiert. Dafür kann er wertschätzen, mit welchem Aufwand die Entwickler die Geschichte inszenieren. Sich eben noch ganz normal durch kleine Gegnergruppen zu schnetzeln und dann plötzlich Teil einer epischen Belagerungsschlacht zu sein, das gefällt Noah.
Doch nun gibt es ein Problem: Er hat Wind davon bekommen, dass in Arkesia der Haussegen schief hängt. Er spürt, wie sehr es innerhalb der Community rumort. Dabei geht es nicht mehr um lange Warteschlangen, sondern ein viel größeres, das Game Design betreffendes Problem: Die mickrigen Erfolgsraten für das Upgraden von Ausrüstung in Klasse 3 des Endgames resultieren in der allerschlimmsten Form von Grind. Das haben auch schon große Streamer wie Asmongold und Senderfn kritisiert.
Zunächst setzt sich Noah nicht intensiv damit auseinander. Er ist eh noch weit davon entfernt, jenes Ärgernis am eigenen Leib zu spüren, hat sein Charakter doch nicht mal die Level-50-Grenze passiert. Seine Motivation, diesen Meilenstein zu erreichen, ist nach wie vor groß. Er möchte wissen, wie die ganzen Endgame-Dungeons aussehen, was ihn auf den Kontinenten und vielen kleinen Inseln erwartet, auf die er noch keinen Fuß gesetzt hat. Außerdem hat sich Noah noch gar nicht mit dem PvP-System befasst, von dem er so viel Gutes gehört hat. Der Held unserer kleinen Geschichte ist sich sicher, dass er viele weitere Stunden in Arkesia verbringen wird.
Ein Online-Kasino mit toller Ausstattung und ätzenden Besuchern
Kurze Zeit später jedoch stößt er eher zufällig auf einen Beitrag im offiziellen Forum von Lost Ark mit dem Titel „Ich habe aufgehört und vielleicht solltet ihr das Gleiche tun“. Das weckt Noahs Neugier. Könnte die Spielerfahrung sich wirklich in eine solch negative Richtung entwickeln, dass jemand nicht nur Lost Ark den Rücken kehrt, sondern zusätzlich anderen Spielern lang und breit predigt, warum sie das auch tun sollten? Das kann er sich kaum vorstellen, wo doch das Gameplay so großartig ist und die Story so viele tolle Einzelmomente bietet.
Noah überfliegt den recht langen Beitrag und stößt auf Schlagwörter wie "Kasinosimulator", "rücksichtsloses RNG-System" und "die Toxizität der Community". Und er liest, dass der Verfasser namens TwitchTv_Wpanic satte 525 Stunden in Lost Ark verbracht hat. Er muss sofort an die typischen Steam-Reviews denken, in denen Leute (sinngemäß) schreiben: "Habe das Spiel 800 Stunden gespielt. Ich kann es nicht empfehlen." Ja, Moment, niemand zockt doch einen Titel 800 (oder eben 525) Stunden lang, wenn er ihn doof findet. Da kann ja was nicht stimmen!
Nun handelt es sich aber nicht um eine Steam-Review und TwitchTv_Wpanic schreibt nichts davon, dass Lost Ark ein grundsätzlich schlechtes Spiel sei. Er stellt sogar klar, dass er für den Großteil der Zeit richtig Spaß gehabt habe. Er kritisiert nicht die Dinge, die Noah so sehr gefallen, sondern das, wovon unser Protagonist noch so weit entfernt ist: den Frust, den das miese Ausrüstungs-Upgrade-System in Klasse 3 des Endgames hervorruft.
Eine Warnung, die man ernst nehmen sollte?
TwitchTv_Wpanic habe mit seinem Hauptcharakter einen Item-Level von 1405 erreicht. Er habe sich durch diese schlimme Phase gequält, in der man eine gefühlte Ewigkeit lang wertvolle Materialien farmt, um dann beim Versuch, die eigene Ausrüstung aufzuwerten, gesagt zu bekommen: "Oh, das ging leider schief. Tja, dann musst du wohl die ganzen Ressourcen nochmal sammeln gehen. Aber hey, du kannst ja auch Geld ausgeben, um den Prozess zu beschleunigen und zum Beispiel öfter am Tag die Dungeons betreten zu dürfen."
Wenn TwitchTv_Wpanic diesen Umstand gegenüber anderen Spielern kritisiert habe, sollen die sich als Fanboys erwiesen haben, die die Glücksspiel-artige Mechanik zu relativieren versuchten oder gleich sehr toxisch reagierten. Er nennt keine konkreten Beispiele, zeichnet aber das Bild von Leuten, die Amazon Games und dem koreanischen Entwickler Smilegate, wie heißt es so schön, voll auf den Leim gegangen sind.
"Wir haben von Lost Ark erwartet, ein großartiges MMO zu sein, aber im Endeffekt ist es ein Kasinosystem und sofern ihr nicht alt seid und es mögt, vor einem Spielautomaten zu stehen, ist dieses Spiel nichts für euch!", schreibt TwitchTv_Wpanic. Noah beginnt zu zweifeln. Was, wenn dieses System ihn früher oder später davon abhalten würde, die Story-Sequenzen zu genießen? Wäre er auch, wie es in dem Forenbeitrag heißt, dazu gezwungen, weitere Charaktere zu erstellen, nur um mit ihnen Materialien für seinen Haupthelden zu farmen, um mit letzterem noch zu seinen Lebzeiten voranzukommen? Darauf hat Noah überhaupt keine Lust. Und plötzlich stellt er sich folgende Frage: "Soll ich auf den Rat hören und Lost Ark wirklich den Rücken kehren, um mich vor Frust und Wut zu bewahren?"
Der größte Köder im Free-to-Play-Segment
Nun ist Noah eine fiktive Person, der Beitrag von TwitchTv_Wpanic ist beziehungsweise war es aber nicht (der wurde mittlerweile gelöscht, ob nun von ihm selbst oder Amazon ist ungewiss). Der beschriebene innere Konflikt ist aber vielleicht gar nicht so weit von dem entfernt, was manche Leute dachten, nachdem sie den genannten Text lasen. Es gibt sicherlich eine breite Masse an "Lost Ark"-Spielern, die noch nicht Klasse 3 des Endgames erreicht und sehr viel Freude an dem Spiel haben, weil die vielfach im Netz diskutierten Probleme rund um das Aufwertungssystem für Ausrüstung sie (noch) nicht betreffen. Aber wie soll man mit dem Wissen darüber umgehen? Lost Ark einfach ad acta zu legen, wie TwitchTv_Wpanic es empfiehlt, obwohl es doch nach wie vor Spaß macht, klingt nicht sehr reizvoll. Ist ja auch absolut verständlich. Man hört ungern mit einer Sache auf, mit der man viel Positives verbindet.
Genau das ist der Knackpunkt. Lost Ark macht etwas relativ Ungewöhnliches: Der Punkt, an dem das Online Game euch dazu drängen möchte Geld auszugeben, damit ihr deutlich schneller Fortschritte macht, kommt sehr spät. Wir kennen das von vielen Browser- und Mobile-Spielen. Sie füttern euch zunächst an, indem sie euch zum Beispiel Premiumwährung schenken und das Gefühl geben, gut voranzukommen und früh Erfolge zu feiern. Doch schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit legen sie den Schalter um und euch allerlei Steine in den Weg, während sie die Investition von Geld als Problemlösung anpreisen. In Lost Ark dauert dieses Anfüttern (je nach Spielweise) mehrere 100 Stunden. Nun könnte man sagen: "Ist doch gut so! Jede Menge Spielspaß für lau!" Das hat aber eine Schattenseite.
Geld oder Zeit?
Ein Mobile Game, das euch schon kurz nach dem Tutorial klarmacht, dass Fortschritt in ordentlichem Tempo seinen Preis hat, gibt euch kaum die Möglichkeit, es zuvor in euer Herz zu schließen. Ihr stempelt es als Abzocke ab und widmet euch dem nächsten Titel, ohne eine Form von Enttäuschung oder gar Wut zu fühlen. Aber wenn ihr bereits eine dreistellige Anzahl Stunden in Arkesia verbracht und aufgrund der visuellen und inhaltlichen Qualitäten Lost Ark als tolles Spiel eingestuft habt, wird die Geschichte ganz anders enden.
Entweder investiert ihr dann echtes Geld, weil ihr euch sagt: "Das Ding hat mir schon so viel Freude beschert und die Macher haben dafür noch nichts von mir bekommen. Da kann ich das ja jetzt mal machen." In dem Fall würdet ihr feststellen, dass ihr eine hohe Summe ausgeben müsstet, damit eure Investitionen tatsächlich eine Wirkung zeigen, sofern ihr nicht immenses Glück hättet – womit wir beim Kasinovergleich von TwitchTv_Wpanic wären.
Die zweite Möglichkeit ist, dass ihr statt Geld eine andere wertvolle Ressource massenweise investiert: Zeit. Ihr würdet also versuchen, den Verlockungen aus dem In-Game-Shop zu widerstehen … und irgendwann völlig frustriert sein. Ihr säet euch dazu gezwungen, tagelang immer wieder die gleichen Inhalte mit mehreren Charakteren zu durchlaufen – nicht weil es Spaß machen würde, sondern weil ihr euch dazu genötigt fühltet. Und wenn ihr mal alle nötigen Materialien für einen Upgrade-Versuch beisammen hättet und ihn wagen würdet, würde er mit ziemlicher Sicherheit fehlschlagen. Alles, was ihr zuvor gemacht hättet, wäre nahezu umsonst gewesen. Ok, die Chance, dass der nächste Versuch erfolgreich sein würde, wäre ein wenig höher, aber das wäre nicht mehr als ein wirkungsloses Trostpflaster.
Es geht auch anders
Das alles ist extrem bitter, gerade weil Amazon Games im Vorfeld immer wieder betont hatte, dass die westliche Version von Lost Ark ein entschärftes Geschäftsmodell haben werde. Dass es genügend Beispiele für erfolgreiche Free-to-Play-Titel gibt, die so etwas nicht nötig haben, verstärkt die Enttäuschung noch mehr – selbst wenn es sich um ein Spiel wie Genshin Impact handelt, dessen Art der Monetarisierung auch nicht unkritisch zu betrachten ist. Dessen Gacha-Mechanik, die dazu verleitet, mehr und mehr Geld zu investieren, bis man den einen 5-Sterne-Charakter bekommt, den man schon immer haben wollte, ist perfide, keine Frage. Aber müsst ihr in diese Falle tappen, um die Geschichte, Spielwelt und Aktivitäten von Genshin Impact in vollem Umfang zu erleben? Nein.
Man kann miHoYo viel vorwerfen. Dass die Chinesen einen immer wieder 5-Sterne-Helden kurz im Zuge von Quests ausprobieren lassen, ist nichts weiter als Werbung. Dass euch nach spätestens jedem 90. Gebet ein 5-Sterne-Recke oder -Item garantiert ist, klingt im ersten Moment anständig. Denkt man kurz darüber nach, sollte allerdings klar werden, dass auch das nur eine Locktaktik ist, um euch zu hohen Ausgaben zu bewegen. Der Unterschied zu Lost Ark ist, dass ihr diesen Aspekt von Genshin Impact komplett ignorieren könnt, weil er von der eigentlichen Progression losgelöst ist. Das Game Design leidet hier nicht unter dem Geschäftsmodell.
Unser Ratschlag
Was würden wir nun also Noah sagen? Sollte er Lost Ark weiterspielen, wenn er doch Spaß am Gameplay und der Story hat? Oder würden wir ihm wie TwitchTv_Wpanic raten, besser frühzeitig den Absprung zu vollziehen? Was ist mit denjenigen unter euch, die Lost Ark aus den gleichen Gründen wie Noah genießen oder genießen würden (falls ihr noch gar nicht eingestiegen seid)?
Nun, sagen wir es so: Als Gelegenheitsspieler, der sich nicht um die Progressionsspirale schert und dem der Plot an sich nicht so wichtig ist, dass man unbedingt wissen möchte, wie er ausgeht, könnt ihr lange Zeit unbekümmert Spaß mit der Kampfmechanik und den inszenatorischen Highlights haben. Seid euch nur bewusst, dass ihr irgendwann von euch aus einen Schlussstrich ziehen solltet, bevor Lost Ark euch mit dreisten Mechaniken jede Menge Zeit und/oder Geld rauben will. So bewahrt ihr euch selbst vor dem, was TwitchTv_Wpanic in seinem Forenbeitrag beschreibt. Und an alle die, die sich so richtig dem Grind hingeben wollen: Spielt einfach was anderes, solange Amazon und Smilegate nicht fundamental etwas ändern! Es gibt so viele bessere, fairere Alternativen. Ein paar davon finden sich in unserer Liste der besten Online Games aller Zeiten.