Die lange Wartezeit auf Cyberpunk 2077 hätte besser noch etwas länger ausfallen sollen, gelohnt hat sie sich dennoch.
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Test: Kein Meisterwerk, aber ein besonderes Spiel
Am 10. Januar 2013 erfreute uns CD Projekt RED mit einem Teaser für sein neues Spiel: Das polnische Studio kündigte an, einen Titel auf Basis des Pen-&-Paper-Rollenspiels "Cyberpunk 2020" zu entwickeln. Tja, bloß war zu dem Zeitpunkt nicht einmal The Witcher 3: Wild Hunt erschienen. Das ist, wie wir alle wissen, erst zwei Jahre später auf den Markt gekommen. Die Ankündigung des Nachfolgeprojekts erfolgte also lange Zeit vor dem Start der richtigen Produktionsphase von dem Spiel, das nun am 10. Dezember 2020 unter dem Namen Cyberpunk 2077 endlich für den PC, die PS4 und Xbox One erschienen ist. Der Hype war riesig und genauso groß ist nun der Hohn und Spott für CD Projekt RED im Netz. Denn in den vergangenen Tagen tauchte ein Bug-Video nach dem anderen auf und zumindest die Konsolenversionen scheinen sich, wenn man sie auf der normalen PS4 oder Xbox One spielt, an der Grenze zur Unspielbarkeit zu bewegen.
Wir haben Cyberpunk 2077 auf dem PC gespielt. Wir können nicht darüber urteilen, wie mies die Portierungen auf die Konsolen geworden sind. Aber auch in der PC-Fassung erweist sich das ambitionierte Open-World-Epos als nicht gerade fehlerfreies Produkt – und dabei beziehen wir uns nicht bloß auf die Bugs. Cyberpunk 2077 ist nicht das Meisterwerk geworden, dass wir uns all die Jahre erträumt haben. Also können wir diesen Test an dieser Stelle eigentlich schon abhaken und es zu den Enttäuschungen des Jahres schieben? Um es mit den Worten eines zum Internet-Meme gewordenen Gastes einer Talkshow aus den 2000ern zu sagen: "Defiti... Definitiv nein!"
CD Projekt behält seine größte Stärke...
Die hohe Qualität von The Witcher 3 war trotz des Hypes eine Überraschung. Niemand hatte damit gerechnet, dass CD Projekt RED, das mit den beiden vorherigen Spielen rund um Hexer Geralt recht lineare Spiele abgeliefert hat, es schaffen würde, eine ähnlich gute Geschichte mit einer riesigen Open World zu verknüpfen. Aber genau das haben die Polen geschafft. Mit Cyberpunk 2077 wiederholen sie nicht nur dieses Kunststück, sondern legen sogar noch eine Schippe drauf.
An dieser Stelle wollen wir euch ja nicht zu viel von der Geschichte verraten, denn die sollt ihr gefälligst unbefleckt erleben können. Wir sagen also nur so viel, wie eh schon aus den ganzen Trailern bekannt ist: Ihr spielt den oder die Söldner*in V, der oder die im Jahr 2077 in der Metropole Night City zusammen mit Kumpel Jackie einer der ganz Großen seines Fachs werden möchte. Eines Tages erhalten die beiden einen Auftrag, der sie im Nu in die höchste Söldnerriege der Stadt katapultieren könnte. Sie sollen einen Biochip klauen, auf dem sich etwas sehr Wertvolles befindet: die digitalisierte Persönlichkeit von Johnny Silverhand, einem Rockerboy und Terroristen, der über 50 Jahre zuvor verstorben ist. Der Heist läuft nicht ganz wie geplant und am Ende landet der Chip im Schädel von V. Das führt nicht nur dazu, dass er oder sie plötzlich ständig Johnny vor sich sieht, der zu ihm/ihr spricht, sondern hat auch noch andere fatale Folgen, wenn der Hauptcharakter nicht schleunigst etwas unternimmt.
Die Geschichte und ihre Figuren sind die eindeutig größten Stärken von Cyberpunk 2077. So spannend war schon lange keine Videospiel-Story mehr und noch dazu ist sie fabelhaft inszeniert. Es gibt so einige Momente, bei denen uns die Kinnlade heruntergeklappt ist. Aber dem gegenüber stehen auch sehr viele ruhige, dialoglastige Passagen. Cyberpunk 2077 ist eben ein waschechtes Rollenspiel, kein Bombast-Shooter à la Call of Duty. Die Gespräche gewinnen vor allem dadurch, dass so viele der Figuren vielschichtige Persönlichkeiten sind. Besonders hervorzuheben ist an dieser Stelle Johnny Silverhand, der zunächst wie das größte A****loch der Welt wirkt, sich im Verlauf der Handlung aber doch als jemand erweist, der mehr als nur eine Facette hat. Und das gilt für viele der wichtigen Charaktere in Cyberpunk 2077.
...und baut sie weiter aus
Im Vorfeld hieß es bereits, die Geschichte von Cyberpunk 2077 sei kürzer als die von The Witcher 3, weil viele Spieler letztere nie bis zum Ende erlebt hätten. Tatsächlich könnt ihr Vs Story in rund 20 Stunden durchspielen – sehr wenig für so ein Rollenspiel, das doch als wahres Umfangsmonster beworben wurde, oder? Hier kommt der Clou: Ja, ihr könnt Cyberpunk 2077 in so vergleichsweise kurzer Zeit durchspielen, aber ihr verpasst dann eine ganze Menge. Denn es gibt mehrere Nebenquestreihen, die mit Charakteren verknüpft sind, die ihr im Verlauf der Hauptgeschichte kennenlernt. Und die stehen erstens in Sachen Storytelling den Hauptmissionen in nichts nach, zweitens können sie Auswirkungen auf den Verlauf des zentralen Plots haben. Nehmt ihr sie alle mit, seid ihr locker 40 bis 50 Stunden beschäftigt und da sind die zahlreichen weiteren optionalen Inhalte noch gar nicht mit eingerechnet.
Genau das ist der Grund, warum Cyberpunk 2077 in dieser Disziplin besser dasteht als The Witcher 3. Während Geralt über weite Strecken des Spiels auf der Suche nach seiner Ziehtochter Ciri ist, hilft er im Rahmen der Hauptquests diversen anderen Charakteren. Die berühmte Auftragskette um den Blutigen Baron etwa ist keine Nebenquest, sondern Pflichtprogramm. Seine Geschichte ist jedoch eine eigene und hat mit dem eigentlichen Plot rund um Ciri und die Wilde Jagd nichts zu tun. Dadurch fühlt sich die Hauptstory in The Witcher 3 sehr gestreckt an.
Cyberpunk 2077 tritt viel mehr aufs Gaspedal, ist wesentlich stringenter erzählt, erlaubt euch aber in den wichtigen Nebenaufgaben mehr Zeit mit den Figuren zu verbringen und tiefer in ihre eigenen Geschichten einzutauchen. CD Projekt schlägt hier perfekt die Brücke zwischen einer spannenden Story, die aufgrund ihrer Kompaktheit nicht zu einer Lebensaufgabe wird, und dem Wunsch vieler Spieler danach, Wochen in Night City verbringen zu können, ohne dass ihnen dabei die spannenden Inhalte ausgehen.
Ihr seid V, aber er ist nicht euer Spiegelbild
Wenn man mehrere Stunden selbst gespielt hat, wird man erkannt haben, warum sich CD Projekt RED dafür entschieden hat, dass ihr fast die gesamte Spielzeit über aus der Ego-Perspektive auf Night City und seine unterschiedlichen Bewohner blickt. In den fantastisch geschriebenen und stets interessanten Dialogen etwa blicken euch die Charaktere direkt in die Augen, wodurch deutlich weniger der Eindruck entsteht, einen interaktiven Film zu spielen. In The Witcher 3 steuert ihr Geralt zwar, fühlt euch aber trotzdem mehr wie ein Beobachter von außen. Cyberpunk 2077 ist viel immersiver und kostet das auch in den Skriptereignissen der Missionen voll und ganz aus. Die sind perfekt darauf abgestimmt, dass ihr sie eben aus der First-Person-Ansicht erlebt. Würde euch CD Projekt RED die Möglichkeit geben, jederzeit in die Third-Person-Perspektive umzuschalten, würde viel verlorengehen.
Ihr sollt euch mehr in die Rolle von V hineinversetzt fühlen als in die des Hexers. Das heißt aber nicht, dass ihr seine/ihre Persönlichkeit frei formen könnt. V ist ein recht klar definierter Charakter. Ihr könnt euch anderen Figuren gegenüber zwar mal freundlicher, mal wie ein Arschloch verhalten, er/sie wird aber immer der/die Söldner*in bleiben, der er/sie ist. Weder könnt /ihr einen richtigen Schurken, noch einen strahlenden Helden spielen. In dieser Hinsicht sind sich Cyberpunk 2077 und The Witcher 3 also gar nicht so unähnlich.
Macht euch nicht so viele Gedanken über die Wahl eures Lebenspfads!
Daran ändern auch die drei unterschiedlichen Lebenspfade nicht viel. Ihr habt zwar die Wahl, ob ihr als Angestellter eines Konzerns, Straßenkind oder außerhalb von Night City lebender Nomade beginnt, im Wesentlichen bestimmt die aber nur über die ersten 20 bis 30 Minuten der Kampagne. Ansonsten sorgen sie nur dafür, dass ihr in Dialogen andere Optionen zur Auswahl habt, die nichts am Ausgang von Quests ändern (zumindest in den allermeisten Fällen), sondern bloß dem Rollenspiel dienen. Als ehemaliger Konzernarbeiter etwa könnt ihr die Angestellten eines Hotels zur Sau machen, um eure Tarnung zu wahren. Aber auch als Nomade oder Straßenkind werdet ihr in jener Situation ohne Schwierigkeiten euer Ziel erreichen. Hier verschenkt CD Projekt RED einiges an Potenzial.
Generell trefft ihr über weite Strecken des Spiels gar nicht so viele wichtige Entscheidungen beziehungsweise spürt deren Auswirkungen. Erst dann, wenn es so langsam in Richtung Finale geht, ändert sich das. Dann konfrontiert euch Cyberpunk 2077 aber so richtig doll mit den Konsequenzen eures Handelns und die letzten Stunden der Hauptgeschichte können von Spieler zu Spieler arg unterschiedlich ablaufen. So viele stark diverse Enden, wie es sie hier gibt, kennen wir sonst eigentlich nur von Quantic-Dream-Adventures wie Heavy Rain oder Detroit: Become Human – und die sind spielerisch wesentlich simpler.
Eine Stadt mit Charakter
Wer ist der Star von Cyberpunk 2077? Vielleicht Keanu Reeves, der Johnny Silverhand Gesicht und Stimme leiht? Ja, die Aussage wäre gar nicht mal so falsch, weil der "Matrix"- und "John Wick"-Star hier eine wirklich gute Performance abliefert. Aber wir geben dann doch Night City den Vortritt. CD Projekt RED hat eine Spielwelt geschaffen, die in Sachen Design und Liebe zum Detail auf einer Stufe mit den Open Worlds der jüngsten Rockstar-Spiele steht. Die futuristische Stadt ist ein faszinierender und zugleich höchst abwechslungsreicher Schauplatz. Jeder Distrikt hat seinen eigenen Charakter, sowohl architektonisch als auch im Hinblick darauf, welche Leute dort durch die Häuserschluchten wandern.
Die Innenstadt beispielsweise wirkt sehr sauber und beeindruckt mit ihren riesigen Wolkenkratzern, während vermehrt Anzugträger auf den Gehwegen unterwegs sind. Im Gegensatz dazu steht etwa Rancho Coronado, die verdreckte Vorstadt von Night City, in der die Bevölkerung deutlich ärmer ist. Und in Japantown findet sich eben viel typisch japanische Architektur. Auch die Gangs haben einen Einfluss auf den Charakter jedes einzelnen Stadtteils. In The Glen beispielsweise spielen die Valentinos eine große Rolle, die sehr christlich sind, was sich unter anderem in den vielen christlich geprägten Graffiti widerspiegelt.
Viel zu gucken
Auch sonst strotzt die Spielwelt nur so vor Details. Ständig bekommt ihr mit, wie NPCs miteinander reden und mal amüsante, mal ernsthaftere Dialoge führen. Sie verleihen der Welt genauso mehr Tiefe wie die zahlreichen Werbeanzeigen und auch die Fernsehsendungen, die auf den vielen virtuellen Bildschirmen laufen. Ihr müsst euch nicht in eurem eigenen Apartment auf die Couch fläzen, um zum Beispiel Nachrichten zu schauen. In Night City hängen überall Fernseher. Wie oft standen wir länger als nötig in einem Aufzug, weil wir unbedingt noch die News zu Ende gucken und mehr über die Welt im Jahr 2077 erfahren wollten. Es dreht sich eben nicht alles nur um Night City, die Lore der Spielwelt geht weit über die Stadtgrenzen hinaus, was das ganze Setting sehr authentisch wirken lässt.
Die Authentizität hat allerdings auch ihre Grenzen. Der Interaktionsgrad mit der Spielwelt ist nicht sonderlich hoch. Ihr könnt etwa keine Geschäfte ausrauben und Passanten haben nur sehr wenig Reaktionsmuster. Unvorhergesehene Dinge wie in einem GTA 5 passieren nicht. Fallen Schüsse, hocken sich die meisten einfach mit den Händen über dem Kofp zu Boden. Auch der KI-Verkehr auf den Straßen reagiert auf euch nicht gerade glaubwürdig. Parkt ihr etwa am Seitenrand, bleiben die Wagen hinter euch einfach stehen, obwohl ihr Weg gar nicht blockiert ist. Darüber hinaus gibt es zwar ein Fahndungssystem mit mehreren Stufen, doch groß angelegte Verfolgungsjagden liefert ihr euch abseits von Missionen nie. Fahrt ihr flott zwei bis drei Häuserblocks weiter, geben die Cops die Verfolgung auch schon wieder auf. Night City ist eben letztendlich nur eine Kulisse für die vielen handgebauten Geschichten, keine Fundgrube für Emergent Storystelling.
Kein Mangel an Beschäftigung
Mit der Glaubwürdigkeit eines Los Santos' kann Night City nicht mithalten und die Stadt bietet auch kein so umfangreiches Angebot an Freizeitaktivitäten. V kann weder Bowlen gehen noch ins Kino oder auf den Golfplatz. Es gibt auch kein Äquivalent zu Gwent, obwohl wir fest mit solch einem elaborierten Minispiel gerechnet hatten. Aber V hätte auch kaum Zeit dafür, denn die Story hat schon eine hohe Dringlichkeit. Trotzdem gibt es jede Menge Ablenkungen in der Spielwelt. Bereits nach dem Prolog ist die Weltkarte überfüllt mit Icons.
Doch bevor ihr nun an die typische Ubisoft-Open-World-Formel denkt, haltet ein! Cyberpunk 2077 verzichtet fast vollständig auf öde Sammelaufgaben (es gibt eine einzige und die hat einen Story-Kontext). Selbst die am meisten generisch wirkenden Nebenaktivitäten wie Auftragsmorde oder NCPD-Missionen, wo ihr einfach nur Verbrecher erledigen und Beweismittel sichern sollt, sind mit Storytelling garniert, wenn auch nicht immer in großem Maße. Und dann gibt es da eben noch die vielen umfangreicheren Nebenquests. In einem separaten Artikel werden wir noch detaillierter auf die optionalen Inhalte von Cyberpunk 2077 eingehen, aber so viel sei schon mal gesagt: Vieles davon ist eure Zeit wirklich wert.
Eine Welt, in der Geld wirklich wichtig ist
Die ganzen Nebenmissionen lohnen sich auch deshalb, weil ihr dadurch Geld verdient. Und anders als in The Witcher 3, wo ihr kaum Gründe habt, Gold auszugeben, und die ganzen optionalen Aufträge daher "nur" der Geschichten und Erfahrungspunkte wegen spielt, könnt ihr euch in Night City wirklich coole Dinge kaufen. Das ist zum einen Cyberware. Mit Implantaten verbessert ihr Vs Werte, verschafft ihr/ihm wertvolle Boni oder auch völlig neue Optionen im Kampf. Am meisten stechen sicherlich die Mantis-Klingen, und der Handraketenwerfer hervor, die beide einfach extrem cool sind. Aber auch die Verbesserung eures Cyberdecks, damit ihr mehr Möglichkeiten beim Hacking habt, ist ein erstrebenswertes Upgrade.
Außerdem schicken euch die Fixer, sozusagen die Jobvermittler für Söldner in Night City, ständig Kaufangebote für Autos. Motorisierte Gefährte sind wichtig, um von A nach B zu kommen. Es gibt zwar ein Schnellreisesystem, das ähnlich funktioniert wie in The Witcher 3 (hier sind es Terminals statt Wegweiser), aber die Spielwelt ist so atmosphärisch und schön, dass wir darauf gerne verzichten und lieber mit dem Auto oder Motorrad herumcruisen – und das obwohl die Fahrphysik nicht das Gelbe vom Ei ist. So flüssig wie in GTA 5 fahren sich die Karren nicht, gerade die Lenkung ist nicht ideal. Aber es geht auch deutlich schlechter (ja, Watch Dogs, wir meinen dich) und die Fahrten machen trotz allem Spaß. Und wenn wir ein richtig schickes Auto für über 100.000 Eurodollar (so heißt die Währung in Night City) erstanden haben, dann wollen damit natürlich auch viel durch die Gegend brettern.
Loot ist nicht immer gut
Ihr könnt euer Geld auch für Waffen und Klamotten ausgeben, doch das ist nicht gerade klug. Und hier kommen wir zu den größten Schwachpunkten von Cyberpunk 2077 auf spielerischer Ebene. Da wäre zum einen das Loot-System. Kleptomanen haben viel zum Aufheben. Neben jeder Menge "Junk"-Items gibt es auch einen Haufen an Waffen, Kleidungsstücken und Modifikationen für eben diese. Klingt erst mal gut und die Bandbreite an Items kann sich auch sehen lassen. Das Waffenarsenal ist reichhaltig (Revolver, Schrotflinten, Maschinenpistolen, Sturm-, Maschinen- und Scharfschützengewehre sowie verschiedene Nahkampfwaffen) und modebewusste Spieler haben eine riesige Auswahl an Klamotten unterschiedlicher Stile. Wer es darauf anlegt, kann V richtig stylisch aussehen lassen.
Das Problem dabei: Ihr werdet, nachdem ihr euch in einem Modegeschäft schick eingekleidet habt, schnell Items erbeuten, die bessere Werte haben. Und da es leider kein Transmogrifikations-Feature gibt, kann es dann mal sein, dass ihr euren schönen Look zerstören müsst, weil die knallbunte Hotpants, die ihr gerade gefunden habt, mehr Panzerung bietet als die schöne lange Hose, für die ihr einiges an Eurodollar ausgegeben habt – ja, mit Logik hat es das Loot-System von Cyberpunk 2077 auch nicht so ganz. Bei den Waffen gilt: Ihr findet viel zu viele davon. Schnell wird euer Inventar mit mehreren Exemplaren der immer gleichen Modelle zugemüllt, die sich in ihren Werten nur marginal voneinander unterscheiden. Eine spannende Beutejagd wie in Loot-Shootern gibt es nicht.
"Aber hey, dafür kann ich doch wie in Witcher 3 eigene Waffen und Klamotten craften und nach und nach upgraden." Ja, in der Tat, das Crafting-System in Cyberpunk 2077 ist recht umfangreich. Aber es ist mehr oder weniger nutzlos, denn hier gilt das Gleiche wie beim Klamottenkauf: Ihr habt euch eine gute Waffe gebastelt, was euch viele Ressourcen gekostet hat und zwei Quests später findet ihr eine deutlich bessere Knarre. Und das Upgraden eures Eigenbaus ist dann auch schon wieder zu teuer, als dass es sich auf Dauer lohnen würde, ihn das ganze Spiel über mitzuschleppen. Es lohnt sich daher kaum, Talentpunkte in den Crafting-Baum zu investieren. Das führt uns aber zu einer der großen Stärken von Cyberpunk 2077.
Die größte Schwäche von Witcher 3 erbt Cyberpunk nicht
Wo das Skill-System in The Witcher 3 enorm langweilig ist und nichts daran ändert, wie sich Geralt spielt, könnt ihr V auf bestimmte Aspekte spezialisieren. Zum einen steigert ihr die fünf Grundattribute Konstitution, Intelligenz, Reflexe, Coolness und "Technische Fähigkeiten". Jedes davon umfasst mindestens zwei Talentbäume mit etlichen Perks, was euch enorm viel Freiheit gewährt und sehr unterschiedliche Builds ermöglicht (näheres dazu in einem separaten Artikel).
Freiheit ist eh ein gutes Stichwort, denn das Spieldesign in Cyberpunk 2077 ist viel offener als in The Witcher 3. Eure Missionen könnt ihr stets auf mehrere Arten angehen. Das Leveldesign ist stark vergleichbar mit dem in den "Deus Ex"-Spielen. Es gibt eigentlich immer mehrere Einstiegspunkte in feindliche Gebiete und mehrere Wege ans Ziel. Ihr entscheidet, ob ihr heimlich vorgeht, euch an Gegnern vorbeischleicht, sie von hinten lautlos attackiert oder mit Hilfe eurer Hacking-Fähigkeiten ablenkt, in dem ihr zum Beispiel Radios oder Fernseher aus der Ferne anschaltet. Mit den entsprechenden Hacks lassen sich auch etwa automatische Geschütze gegen eure Feinde einsetzen. Wer keine Lust auf Heimlichtuerei hat, stürmt frontal in Gegnergruppen hinein. Dabei obliegt es euch, ob ihr sie mit einem Katana aufschlitzt oder Cyberpunk 2077 wie einen Ego-Shooter spielt.
Ganz wichtig: Keine dieser Spielmechaniken ist für sich genommen überragend. Das Gunplay ist für ein Rollenspiel sehr ordentlich, dem gelungenen Trefferfeedback sei Dank, kann aber längst nicht mit vollwertigen Shootern mithalten. Gleiches gilt für den Nahkampf, der sich zwar deutlich besser anfühlt als in einem Skyrim, aber längst nicht das Niveau eines Dark Souls oder Sekiro erreicht. Obendrein kommt, dass die Steuerung etwas überladen ist. Das ist mit dem Gamepad weniger ein Problem als mit Maus und Tastatur, da dessen Tasten viel näher beieinander liegen, dafür spielt sich der Fernkampf damit nicht sonderlich geschmeidig. Trotz allem macht das Gameplay Spaß, weil bislang noch kein Open-World-Rollenspiel mit so einem hohen Produktionsaufwand all diese Spielstile vereint hat.
Geile Grafik mit potentem PC
Kommen wir zum größten Aufreger von Cyberpunk 2077: der Technik. Hier treffen höchste Qualität und niedrigste Sorgfalt aufeinander. Auf der einen Seite ist die Präsentation fantastisch und gehört zur absoluten Speerspitze der Videospielkunst, also zumindest eben auf dem PC. Wer einen starken Rechner mit Nvidia-RTX-Grafikkarte der jüngsten Generation sein Eigen nennt, kann Night City mit vollen Details und dem bislang umfangreichsten Einsatz von Raytracing in einem Computerspiel genießen. Reflexionen, Schatten, Beleuchtung, in Cyberpunk lässt sich all das über diese fortschrittliche Grafiktechnologie regeln. Das hat bislang noch kein anderer Titel geboten und das Ergebnis ist optisch eine Wucht. Night City eignet sich mit seinen vielen Neonreklamen auch perfekt als Vorzeigespiel für Raytracing. In der Nacht bei Regen durch die Stadt zu fahren und zu sehen, wie sich all die Werbeanzeigen und Co korrekt in den Pfützen spiegeln, ist fantastisch.
Damit das alles trotzdem flüssig läuft, macht Cyberpunk 2077 regen Gebrauch von Nvidias DLSS-Technologie, die das Bild in einer geringeren Auflösung berechnet und dann hochskaliert. Hier empfehlen wir euch, mindestens die Stufe "Ausgeglichen" zu wählen, denn die beiden Performance-Varianten erzeugen alles andere als ein scharfes Bild. Wir haben uns im Testverlauf aber eh recht schnell gegen Raytracing entschieden, weshalb wir dann auch auf DLSS verzichten konnten. Zwar sorgt letzteres dafür, dass wir Cyberpunk 2077 auf unserem PC mit i7 7700, 16 Gigabyte Arbeitsspeicher und RTX 2070 SUPER durchaus flüssig mit Raytracing spielen können, aber eben so gut wie gar nicht mit 60 FPS. Die sind uns dann doch lieber gewesen. Und selbst ohne Echtzeitspiegelungen und Co sieht Cyberpunk 2077 fantastisch, wenn auch nicht mehr ganz so beeindruckend aus.
Ein Ohrgasmus nach dem anderen
Dafür ist der Sound auf jedem Rechner ein Genuss. Waffen und Fahrzeuge klingen sehr satt, in der Innenstadt kann man das Getummel auf den Straßen förmlich hören und die Musik.... Gott, wie sehr lieben wir diesen Soundtrack! Nicht nur der Score ist mit seinem Mix aus sehr ruhigen, aber doch bedrückenden Klängen und schnellen Elektro-Beats eine Wucht, auch die diversen Radiosender mit Stücken diverser Künstler, die extra für das Spiel komponiert wurden, glänzen. Da ist für jeden was dabei. Es gibt sowohl Punkrock als auch Hip Hop, Techno, Elektropop, Jazz und harten Metal.
Die Krone setzt dem Ganzen die Sprachausgabe auf. Die kann sich sogar in der deutschen Fassung (bis auf wenige Ausnahmen) echt hören lassen. Speziell Benjamin Völz, der Stammsynchronsprecher von Keanu Reeves macht einen fantastischen Job und steht dem Original in nichts nach. Aber wie so oft ist die englische Sprachausgabe insgesamt der deutschen überlegen. Hier macht die Regie einen besseren Job, sodass die Dialoge natürlicher wirken und die Atmosphäre profitiert zudem davon, dass die Figuren passend zur ihren Ethnien unterschiedliche Akzente haben.
Drei Verschiebungen waren nicht genug
Ok, so viel lobende Worte für die Technik, wo bleibt unsere Kritik? Nun, die kommt jetzt und das mit voller Härte. Zugegeben, die PC-Version ist weit von dem desaströsen Zustand, in dem sich Cyberpunk 2077 auf der PS4 und Xbox befindet, entfernt. Nichtsdestotrotz müssen wir uns eingestehen, dass eine weitere Verschiebung hinsichtlich der Qualität des Spiels die beste und einzig richtige Entscheidung gewesen wäre. So sehr wir uns darüber freuen, Cyberpunk im Weihnachtsurlaub spielen zu können, besser wäre es gewesen, wir hätten das erst im Frühjahr 2021 machen können, ohne ständig von irgendwelchen Bugs aus der Immersion gerissen zu werden.
Die meisten Fehler, die uns begegnet sind, sind einfache Glitches. In der Regel schaden die nicht dem Spielspaß, etwa wenn NPCs mitten durch Objekte laufen oder Items in der Luft schweben. Wir hatten aber auch einen Glitch in einer der emotionalsten Szenen des Spiels, in der wir eigentlich traurig sein sollten, dann aber zu lachen begannen, weil plötzlich unserem Gegenüber eine Pistole im Kopf steckte. Einmal hatten wir auch einen Bug, der uns zum Neuladen zwang. Da haben wir in einem Hotel gekämpft und sollten den Fahrstuhl nehmen. Der war aber aus Sicherheitsgründen gesperrt, also mussten wir einen bestimmten Feind erledigen und ihm eine Schlüsselkarte entwenden. Blöd nur, dass der dann in ein anderes Stockwerk geglitcht war, das wir nicht erreichen konnten. Zum Glück hielten sich solche Fehler bei uns aber in Grenzen und Abstürze haben wir gar nicht erlebt. Trotzdem: Cyberpunk 2077 ist längst nicht fertig und auch wenn man auf dem PC viel Spaß haben kann, sollte jeder mit dem Kauf noch warten, bis genug Patches erschienen sind, die ein reibungsloses Erlebnis ermöglichen.
Fazit
Cyberpunk 2077 ist zu früh erschienen und das ist äußerst schade. Kehrt man all die Bugs beiseite, bleibt nämlich ein fantastisches Rollenspiel übrig. Geschichte, Quests, spielerische Freiheit, Atmosphäre, Grafik, Umfang: Diesbezüglich stimmt einfach alles. Ja, nicht jede Gameplay-Komponente ist für sich betrachtet ein Hit und beim Loot- sowie Crafting-System hat CD Projekt sogar richtig ins Klo gegriffen. Deshalb wäre Cyberpunk auch ohne die technischen Probleme nicht das Meisterwerk, das wir uns erhofft haben. Aber in seiner Summe ist es dennoch ein ganz besonderes Erlebnis, das jeder, der Rollenspiele mag, einmal machen sollte – wenn es dann in ein paar Monaten hoffentlich fehlerfrei läuft.
- Mitreißende Story
- Interessante Figuren
- Toll geschriebene Dialoge
- Mehrere sehr unterschiedliche Enden
- Große spielerische Freiheit
- Optionsreiches Skill-System
- Fantastische Nebenquests
- Extrem atmosphärisch
- Hübsche Grafik
- Grandioser Soundtrack
- Auf Deutsch gut, auf Englisch brillant vertont
- Jede Menge Bugs
- Nutzloses Crafting-System
- Missratenes Loot-System
- Einzelne Mechaniken nicht auf Top-Niveau