Dontnod erzählt mit Tell Me Why eine Transgender-Geschichte auf sensible Art und Weise. Das halten wir davon!
Tell Me Why im Test: Gelungenes Drama mit Transgender-Held
Abgesehen von dem Actionspiel Remember Me hat sich das französische Studio Dontnod der Entwicklung von Spielen verschrieben, die über eine ausgeprägte Narrative verfügen. Mit der “Life is Strange“-Marke begannen die Entwickler 2015 diese Erzählreise, die jetzt mit dem Drama Tell Me Why ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Und abermals versuchen die Macher ein schwieriges Thema in ein Spiel zu pressen und dennoch unterhaltsam zu präsentieren. Funktioniert das Kunststück erneut?
Es müssen Erinnerungen aufgearbeitet werden
Tell Me Why erzählt die Geschichte des Zwillingspärchens Tyler und Alyson Ronan, die sich nach gut zehn Jahren zum ersten Mal in ihrem Heimatort, einem ländlichen Dorf in Alaska, wiedersehen. Einst hat der junge Tyler seine Mutter in Notwehr umgebracht und musste daraufhin in eine spezielle Einrichtung für Jugendliche. Als wäre das nicht genug, muss er sich als Transgender leider mit einigen Problemen herumschlagen. Gerade in einem so abgelegenen Örtchen, in dem vielleicht nicht jeder offen mit dieser Form der Sexualität umgehen kann, erschwert das das Zusammenleben noch mehr. Dementsprechend wird Tyler immer wieder mit mehr oder weniger großen Herausforderungen konfrontiert.
Tell Me Why Launch-Trailer:
Die Zwillinge sind eng miteinander verbunden
Die beiden Zwillinge verbindet darüber hinaus noch etwas, wie sie kurz nach ihrem Wiedersehen feststellen: Sie sind telepathisch miteinander verbunden und können die Erinnerungen des jeweils anderen nacherleben. Manchmal seht ihr auch Sequenzen aus der Perspektive beider Charaktere, die sich jedoch inhaltlich etwas unterscheiden. Dadurch ist auch für sie nicht immer sofort erkennbar ist, was wirklich eine Erinnerung ist und was sie sich selbst dazugereimt haben. Zudem können sie durch ihre Gedanken auch miteinander kommunizieren, ohne dass Außenstehende davon etwas mitbekommen. In Anbetracht der Tatsache, dass beide die genauen Umstände jener Nacht, als ihre Mutter starb, näher ergründen wollen, ist das ein nicht zu unterschätzender Vorteil.
Es tauchen immer mehr Fragen auf
Mehr möchte ich an dieser Stelle von Tell Me Why nicht verraten, denn auch wenn Tyler und Alyson eigentlich nur die Hintergründe der besagten Unglücksnacht erfahren wollen, um endlich mit diesem Kapitels ihres Lebens abzuschließen, tauchen dabei immer mehr Fragen über ihre Kindheit auf, die viele Situationen in einem anderen Licht erscheinen lassen. Zudem gibt es die eine oder andere Wendung der Geschichte, die ich so auch nicht erwartet hätte und ein wenig Mystery ist ebenfalls vorhanden. Nebenbei werden auch die Ureinwohner Alaskas ein wenig portraitiert sowie die Psyche der Mutter in einer Art Selbstaufarbeitung beleuchtet.
Das Gameplay rückt in den Hintergrund
Spielerisch reißt Tell Me Why keine Bäume aus. Je nach Situation steuere ich entweder Tyler oder Alyson. Dazu kommt ein kleineres Rätsel hier, ein wenig Umherlaufen dort und die Möglichkeit, in Gesprächen sowie Erinnerungen zwischen verschiedenen Antwort- oder Auswahlalternativen zu wählen und schon ist das Gameplay zusammengefasst. Aber ein mechanisch abwechslungsreiches Spiel zu erschaffen, war auch nie die Absicht der Entwickler. Viel mehr stehen die Charaktere im Vordergrund, ihre Beziehungen zueinander und ihre Entwicklung beziehungsweise ihre Emotionen. Und über allem thront die Transgender-Thematik, die in diesem Spiel mit dem Malus eines Todes durch Notwehr behaftet ist. Dieses Zusammenspiel hat Dontnod allerdings äußerst gut hinbekommen, obwohl ich anfangs meine Zweifel hatte.
Jede Person reagiert anders
Bereits bei der ersten Begegnung mit einem fremden Charakter, der keine große Bindung zur Familie Ronan hat, zeigt sich, mit welcher Sorgfalt die Entwickler vorgegangen sind. Der Besitzer des örtlichen Krämerladens beispielsweise hat offensichtlich wenig Erfahrung im Umgang mit Transgender-Personen, überwindet aber seine anfängliche Skepsis und behandelt kurze Zeit später Tyler wie jeden anderen Menschen auch. Dass das nicht auf jede Figur im Spiel zutrifft, ist klar.
Andere, wie Alysons bester Freund Michael, haben überhaupt kein Problem damit und wieder andere scheinen mit der Situation komplett überfordert. Wie Personen auf Tyler und Alyson reagieren, hängt zum Teil auch davon ab, welche Gesprächsoptionen gewählt werden, denn auch die beiden Protagonisten haben ihren Anteil daran, wie die Reaktionen ihnen gegenüber aussehen. Je nachdem, wie ich mich entscheide, entwickelt sich auch die Beziehung der Zwillinge zueinander, was im Endeffekt nach drei Episoden in verschiedenen Endsequenzen resultiert.
Dazu kommt, dass viele Details der Handlung durch das Erforschen der Umgebung, also dem Aufsammeln und Betrachten mit sowie der Interaktion mit Gegenständen, mit weiteren Informationen unterfüttert werden. Selbst der Blick auf ein einfaches Foto kann zu neuen Gesprächen oder Situationen führen, die ohne diese Informationen in einem völlig anderen Licht erscheinen.
Technik als Emotionskiller
Doch so sehr Dontnod mit der Hilfe von Experten auf eine sorgfältige Präsentation und eine respektvolle Darstellung aller Thematiken in Tell Me Why geachtet hat, so sehr macht die Technik den Entwicklern einen Strich durch die Rechnung. Während die Grafik, gepaart mit einer gelungenen Ausleuchtung und vielen Details, eine stimmungsvolle und bisweilen bedrückende Atmosphäre auf den Bildschirm zaubert, so wenig transportieren die Figuren ihre Emotionen über ihre Mimik.
Hier sind andere Spiele in der Darstellung von Gesichtern und Ausdruck mit der Unreal Engine deutlich weiter. Streckenweise, je nach Kameraperspektive, hatte ich auch das Gefühl, in “tote“ Augen der Figuren zu blicken. Doch dank des gezielten Einsatzes der passenden Musikstücke zum richtigen Zeitpunkt, bleiben die Atmosphäre und die damit verbundenen Emotionen größtenteils erhalten. Bedingt durch die COVID-19-Pandemie bietet das Spiel derzeit nur eine englische Sprachausgabe, was in diesem Fall durch die vorzügliche Ausführung kein Problem darstellt. Untertitel sind natürlich vorhanden.
Fazit
Tell Me Why ist beileibe keine leichte Kost und kein Spiel, das man mal eben nebenbei zockt. Wer wirklich in das Thema eintauchen und die Geschichte in allen Facetten und sämtlichen Enden erleben will, muss sich Zeit nehmen. Ein Durchgang der drei Episoden dauert um die acht bis zehn Stunden. Zwar ist nach dem ersten Durchspielen naturgemäß ein bisschen die Spannung verflogen, aber eine potenziell andere Entwicklung der Charaktere bietet ausreichend Motivation für weitere Durchgänge.
Zudem könnte das Spiel für mehr Akzeptanz für Transgender-Personen in der leider teilweise toxischen Gamer-Community sorgen, so ist zumindest mein Eindruck als alter weißer Mann. Denn wie Dontnod das Thema in diesem Spiel behandelt, ist weder übertrieben klischeebehaftet, noch wurde es mit der Brechstange versucht. Im Gegenteil, in Tell Me Why gehört es zur Normalität und diese Tatsache macht den Titel (noch) zu etwas Besonderem.
- Vorbildliche Ausführung des Themas
- Interessante Geschichte mit vielen Wendungen
- Entscheidungen mit Konsequenzen
- Emotionslose Gesichter
- Sehr simples Gameplay