Drei Jahre nach dem Release ist es stiller geworden um Nintendos Augmented-Reality-Hit. Ist Pokémon GO nach all dem Trubel doch ein Blindgänger?
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Was ist eigentlich mit Pokémon GO passiert?
Es gibt Hype und es gibt Hype, der ganze Straßen und Kreuzungen in Großstädten rund um die Welt lahmlegt. Spätestens zu seinem Release im Sommer 2016 hat ein schnödes Mobile Game geschafft, wozu sonst nur Fußballweltmeisterschaften und gelegentlich ein neues iPhone fähig sind. Gefühlt gerieten zwischenzeitig die Fugen der Zivilisation ins Wanken, weil Horden marodierender Millennials mit Smartphone im Anschlag auch die abgelegensten Ecken stürmten, in der Hoffnung, ein virtuelles Ungeheuer der virtuellen Sammlung ihres virtuellen Meister-Alter-Egos hinzuzufügen. Und wir reden hier in erster Linie nicht von Kindern, sondern von berufstätigen Erwachsenen mit Familien, Jobs und Bausparverträgen. Pokémon GO war überall. Nein, wirklich. Ü-B-E-R-A-L-L.
Heute ist von all dem Trubel nicht mehr viel übrig. Die Chancen stehen ziemlich gut, dass ihr eine Weile nichts mehr von Pokémon GO gehört habt, wenn ihr es nicht selbst spielt. Die völlig durchgeknallten Meldungen über Spieler, die im Poké-Rausch irgendetwas angestellt haben, sind verstummt. Genau wie die Anzug- und Birkenstockträger in diversen öffentlich-rechtlichen Talkshows, die mit ihr ihrer Sorge um die Kinder, UM GOTTES WILLEN, DIE ARMEN KINDER, den einzig anwesenden und vielen zuschauenden Menschen mit Ahnung in die Verzweiflung trieben. Wie so oft, wenn es um Spiele mit so viel anfänglicher Aufmerksamkeit geht, stellt sich drei Jahre später die Frage: Was bleibt nach dem Hype? Ist Pokémon GO noch relevant?
Pokémon GO ist relevanter denn je. Denn Relevanz ist nicht dasselbe wie Popularität. Zu erwarten, dass Pokémon GO langfristig in der breiten Medienlandschaft im selben Maße stattfindet, ist völlig unrealistisch. Zum einen, weil Hype nicht so funktioniert. Er ist per Definition flüchtig. Neuware ist immer so lange begehrt, bis der nächste heiße Scheiß zu haben ist. Zum anderen, weil Pokémon GO derart über alle Maßen durch die Decke gegangen ist, dass es zu einem Abschwung kommen musste. Hype verhält sich nämlich ähnlich wie Schwerkraft exponentiell. Je größer die Strahlkraft eines Objekts, desto größer ist der Raum, der von davon beeinflusst wird. Je weiter vom Ursprung der Anziehung entfernt, desto größer die Zahl der beeinflussten Teile im Raum. Aber auch wenn weiter entfernt mehr Dinge von der Anziehungskraft erfasst werden, wirkt sie dort lange nicht so stark. Weniger astronomisch formuliert: Je mehr Casuals mit einem Game in Berührung kommen, desto mehr von ihnen springen bald auch wieder ab.
Bei den Zahlen, die Pokémon GO zu Hochzeiten an den Tag gelegt hat, musste es also gezwungenermaßen bergab gehen: über 20 Millionen aktive User pro Tag allein in den USA eine Woche nach Release, 75 Millionen Downloads innerhalb der ersten drei Wochen, 500 Millionen Dollar Umsatz in den ersten drei Monaten. Zwischenzeitig war es auf zehn Prozent aller Android-Geräte in den USA installiert. Publisher Nintendo brach am Börsenmarkt Jahrhundertrekorde.
Dass Pokémon GO ein Hit werden würde, hat sich damals abgezeichnet. Alle Zutaten für einen ordentlichen Hype waren von Beginn an vorhanden. Pokémon ist nicht nur eine der bekanntesten und beliebtesten Marken in der Popkultur. Sie spricht eine der lukrativsten Emotionen an, die sich im gemeinen Verbraucher anzapfen lassen. Nichts zieht dem alternden und neuerdings finanziell abgesicherten auf die Dreißig Zugehenden schneller das Geld aus der Tasche als kindliche Nostalgie. Viele der Pokémon-Fans der ersten Generation befinden sich momentan in dieser von Vermarktern so begehrten Übergangsphase, in der sie finanziell bereits abgesichert sind, aber ihr Geld noch nicht für Haus und Kind ausgeben. Ihnen und anderen Fans hat Nintendo zudem genau das geliefert, wovon sie als Kinder schon immer geträumt haben: Pokémon im echten Leben! Wer hat in den späten Neunzigern als Sechs- bis Zwölfjähriger mit Game Boy Color im Rucksack nicht davon geträumt, auf dem Weg zur Schule ein Pikachu oder ein Kleinstein zu fangen?
Versprechen ist eine Sache. Sie zu halten natürlich eine völlig andere. Aber Entwickler Niantic hat, abgesehen von völlig verständlicher Serverüberlastung zu Beginn, mit Pokemon GO genau das abgeliefert, was der so begehrten Zielgruppe im Vorhinein in Aussicht gestellt wurde: Ausgereifte AR-Technik kombiniert mit der bewährten Pokémon-Formel aus Rollenspielgrind mit Suchtfaktor und Community-Building. Gerade letzteres macht Pokémon GO nach wie vor zu einem Top-Game, sowohl qualitativ als auch monetär. Noch immer hält sich das Spiel hartnäckig in den Top 100 der Download Charts für Apps auf iOS und Android. Laut der Marktanalysefirma Sensor Tower hat Niantic durch Pokémon GO 2018 fast 800 Millionen Dollar eingenommen, deutlich mehr als im Vorjahr. Bis Ende des Jahres könnten sich dei Einnahmen seit Release aus insgesamt über 3 Milliarden Dollar belaufen.
Es ist langfristig besser für alle Beteiligten, wenn weniger aber dafür leidenschaftliche und zahlungswillige Spieler einem free-to-play Online Game wie Pokémon GO die Fahne halten. Während die Hype Beasts und Mitläufer inzwischen längst zum nächsten Trend weitergezogen sind, blüht die Core-Community auf. In Chicago kamen erst Mitte Juni 60.000 Trainer in Chicago für das Pokémon GO Fest zusammen.
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Ein Beitrag geteilt von Pokémon GO (@pokemongoapp) am Jun 19, 2019 um 1:42 PDT
Auf Facebook, Reddit und Discord wuselt es in gut besuchten Gruppen vor Taschenmonsterjägern, die sich mit Gleichgesinnten über die besten Fundorte, neue Features und anstehende Events austauschen. Niantic darf sich hier auf die Schulter klopfen, denn mit regelmäßigen Updates wie einem PvP-Modus, Raids und zeitlich exklusiven Pokémon hält der Entwickler seine Wailmer bei der Stange. Als „Wale” werden in der Branche Spieler bezeichnet, die am meisten Geld für Mikrotransaktionen ausgeben.
Bestes Indiz dafür, dass es mit Pokemon GO weiterhin läuft, ist Harry Potter Wizards Unite. Damit will Niantic das Konzept von Pokemon GO auf das Zaubereruniversum aus der Feder von J. K. Rowling übertragen. Statt Pokémon zu sammeln, sollen Spieler sich in der Augmented Reality in Wizards Unite auf die Suche nach magischen Artefakten machen, die es aus der Nicht-Zaubererwelt zu bergen gilt. Die ersten Reaktionen auf den Ableger fallen eher zurückhaltend aus, was angesichts der Vorlage auch verständlich ist. Schließlich geht es für Fans von Harry Potter eher darum, sich in einer detailreichen Welt zu verlieren, als irgendetwas einzusammeln. Aber die Fans von Pokémon GO dürfen sich in der Gewissheit wiegen, in ihrer Nachbarschaft noch lange über Rattfratze und Habitaks zu stolpern. Imitation ist schließlich der größte Ausdruck von Schmeichelei.