Schon nach wenigen Minuten mit Tower of Fantasy wird deutlich, dass sich die Entwickler Genshin Impact ganz genau angesehen haben.
Tower of Fantasy: In Teilen dreist kopiert, aber unterhaltsam
Videospielentwickler haben schon immer voneinander abgeguckt. Rocksteady hat einst mit Batman: Arkham Asylum das großartige "Free Flow"-Kampfsystem etabliert – und Monolith hat es Jahre später in Der Herr der Ringe: Mordors Schatten einfach übernommen. Oder nehmen wir Command & Conquer. Da hat man zum ersten Mal in einem Echtzeitstrategiespiel mehrere Einheiten markieren und auf einmal befehligen können. Die Konkurrenz übernahm das Feature – und so wurde es zum Genrestandard. Kopieren kann also etwas echt Gutes sein. Es beschwert sich ja auch keiner, dass nach dem Erfolg von Dark Souls diverse Entwickler dem nachgeeifert haben und so ein ganzes Genre entstanden ist. Doch wann ist eine Kopie zu dreist? Nun, die Frage ließe sich mit einem Blick auf Tower of Fantasy beantworten.
Huch, das kommt mir alles sehr bekannt vor
Schon nach wenigen Minuten im Spiel stach mir ins Auge, wie krass der chinesische Entwickler Hotta Studio bei seinen Landsleuten von miHoYo und deren Genshin Impact abgeschaut hat. Es ist längst nicht nur der Anime-Look, der frappierend an den Mega-Hit erinnert. Die Schriftart ist die Gleiche, einzelne Menüs sind fast eins zu eins übernommen worden und auch das Spielkonzept ist verdammt ähnlich. Ihr erkundet eine Open World, in der überall Kampfherausforderungen sowie kleine "Puzzles" (ganz ehrlich, die sind so simpel, dass sie kaum als solche zu bezeichnen sind) und vor allem jede Menge Sammelkram auf euch warten. Ein Gacha-Element ist natürlich auch mit von der Partie, nur dass ihr hier bloß indirekt Charaktere sammelt. Eigentlich sind euer Hauptbegier verschiedene Waffen, zwischen denen ihr im Kampf wechseln könnt. An jede davon ist jedoch eine Figur gebunden, die ihr als Skin auswählen könnt, aber nicht müsst. Ansonsten lauft ihr stets mit eurem selbst erstellten Protagonisten herum.
Wo wir gerade schon beim Thema Kampfsystem sind: Auch das erinnert stark an Genshin Impact. Einerseits aufgrund des bereits angesprochenen Features, jederzeit die Waffe zu wechseln (im Konkurrenzspiel schaltet ihr stattdessen zwischen den Charakteren hin und her), andererseits deshalb, weil es sich ganz ähnlich spielt. Jede Waffe hat eine aktive Spezialfähigkeit mit einer Abklingzeit und ansonsten drückt ihr immer nur nur die normale Angriffstaste. Die einzige Besonderheit, durch die sich Tower of Fantasy an dieser Stelle ein wenig von Genshin Impact abhebt: Wenn ihr im richtigen Moment die Waffe wechselt, löst ihr eine sogenannte Entladungsfähigkeit aus, die besonders mächtig ist. Aber das ändert nun auch nicht viel daran, dass sich beide Titel sehr ähnlich anfühlen.
Das "Genshin Impact"-MMO, das nicht Genshin Impact heißt
Natürlich könnt ihr auch in Tower of Fantasy fast überall in der Spielwelt klettern, was Ausdauer verbraucht, ebenso wie das Schwimmen. Und es gibt auch die Möglichkeit, durch die Luft zu gleiten, in diesem Fall mit einem Jetpack. Gut, diese Features hat miHoYo auch einfach nur von The Legend of Zelda: Breath of the Wild übernommen, aber aufgrund der sonstigen starken Ähnlichkeiten zwischen Tower of Fantasy und Genshin Impact ist klar, dass sich Hotta Studio nicht das Nintendo-Switch-Spiel zum Vorbild genommen hat.
Ist das alles ganz schön dreist? Ja, irgendwie schon. Ist Tower of Fantasy deshalb ein Spiel, dass man gerade als "Genshin Impact"-Fan mit Ignoranz strafen sollte? Nein. Hotta Studio mag viel kopiert haben, was jedoch nicht bedeutet, dass sich Tower of Fantasy komplett wie ein zweites Genshin Impact anfühlt. Der wesentlichste Unterschied zwischen den beiden Spielen: Wo miHoYos Titel primär ein Singleplayer-Abenteuer ist, geht Tower of Fantasy deutlich mehr in die MMO-Richtung. Ihr könnt jederzeit (Story-Instanzen mal ausgenommen) anderen Spielern begegnen und erhaltet sehr früh im Spielverlauf Zugriff auf diverse Gruppenaktivitäten. Es gibt auch ein Gildensystem, was in Genshin Impact fehlt – und PvP. Außerdem könnt ihr euren Charakter nicht nur mit Accessoires ausstatten, die eure Werte erhöhen, sondern das Ausrüstungssystem ist mit verschiedenen Hosen, Oberteilen, Kopfbedeckungen, Armschienen, Gürteln und noch mehr viel umfangreicher (wobei die Items auch hier nicht die Optik verändern).
Darüber hinaus macht Tower of Fantasy manche Dinge schlicht besser als Genshin Impact. Zum Beispiel gibt es bereits jetzt in der Release-Fassung verschiedene Fahrzeuge, mit denen ihr schneller durch die offene Welt reist. In Genshin Impact wurde nach Release ein Boot eingeführt, das ihr aber nur in einem Event-Areal und in Inazuma verwenden könnt – was aber auch logisch ist, da der Rest der Spielwelt wenig Anlass für Bootsfahrten bietet. Dennoch: Auf Reittiere oder eben Landvehikel warten die Spieler nach zwei Jahren noch immer, in Tower of Fantasy sind sie vom Start an da.
Auch das Gacha-System gefällt mir besser, weil ich das Gefühl habe, hier als Free-to-Play-Spieler mehr zu bekommen als in Genshin Impact. Die Kehrseite davon ist zwar, dass es zu viele verschiedene Währungen gibt, aber dafür eben auch eine, die ich ausschließlich durch das Erkunden der Welt erhalte – und das sehr regelmäßig. Ok, es gibt in dem Fall bei den sogenannten Sonderbestellungen (dem Äquivalent zu den Gebeten in Genshin Impact) kein "Pity"-System, das euch nach 10 beziehungsweise 80 Bestellungen eine gute Waffe garantiert [in ersterem Fall ist es mit hoher Wahrscheinlichkeit eine des zweithöchsten Ranges (SR), in letzterem garantiert eine des höchsten (SSR)]. Zusätzlich liegen die Chancen, richtig gute Waffen zu bekommen bei gerade mal drei Prozent für SR-Waffen und nur 0,3 Prozent für SSR-Items. Nichtsdestotrotz: In Genshin Impact gibt es nur die Premiumbanner, für die ihr entweder Geld hinblättern oder sehr, sehr lange spielen müsst, bis ihr mal eine Zehnerziehung machen könnt.
Wo Tower of Fantasy der Konkurrenz unterlegen ist
Tower of Fantasy ist, soweit ich das nach ungefähr zehn Stunden Spielzeit (wie viel genau, kann ich mangels Counter nicht sagen) beurteilen kann, dennoch nicht besser als Genshin Impact. In vielen Punkten sind sich die Titel ebenbürtig, etwa beim Kampfsystem und ebenso in Sachen Story sowie Quests. In letzteren beiden Disziplinen ist auch Tower of Fantasy solide mit ein paar Ausreißern nach unten, aber ich habe bislang noch zu wenig von der Geschichte erlebt, als dass ich sie vollends bewerten könnte. Zumindest schaue ich mir aber noch jegliche Zwischensequenzen an und überspringe keine Dialoge, doch wer weiß, ob das nach 20 oder 30 Stunden immer noch der Fall ist.
Aapropos Zwischensequenzen: Das ist einer der Aspekte, in denen Tower of Fantasy der Konkurrenz unterlegen ist. Man merkt dem Spiel an, dass Hotta Studio weniger Budget gehabt hat als miHoYo. Die Cutscenes sind nicht schlecht, können aber nicht mit der wirklich guten Inszenierung eines Genshin Impact mithalten.
Viel schwerwiegender ist jedoch, dass ich in der Welt bislang auf kein einziges cooles Rätsel gestoßen bin und die quer über die Welt verteilten "Copy & Paste"-Puzzles (wie eingangs angedeutet) deutlich lahmer sind als ihre Pendants in Genshin Impact. Einen kleinen Wasserelementar in eine große blaue Pflanze zu werfen, die direkt neben ihm steht, damit die ihn frisst und mir dafür Loot ausspuckt, ist nun wirklich keine Herausforderung. Ich hoffe, da kommt in hochstufigeren Gebieten noch mehr oder dass zumindest so manche Nebenquest meine grauen Zellen ein wenig fordert.
Hört auf, mich zu belohnen!
Was erst mal gar nicht wie ein Kritikpunkt wirken mag, ist in der Tat einer: Es gibt zu viele Belohnungssysteme. Alle Nase lang wird ein anderer Menüpunkt rot markiert, weil ich mir wieder irgendwas abholen kann. Es gibt tägliche Login-Belohnungen, ich bekomme für jeden fünften Stufenaufstieg eine Extrawurst und ein Battle Pass darf auch nicht fehlen. Dann kommt noch ein Neulings-Event hinzu, bei dem ich fürs Abschließen von Minimissionen Punkte sammle, um nach und nach diverse Belohnungspakete freizuschalten. Außerdem wäre da noch das Wandererprotokoll, das genauso funktioniert wie das Abenteuerhandbuch in Genshin Impact (da wären wir wieder beim Thema Kopieren): Ich erfülle kleine Aufgaben und wenn ich ein Kapitel komplettiere, gibt es eine größere Abschlussbelohnung.
Ihr glaubt, das war's? Oh nein, denn natürlich kommen noch wöchentliche Quests und tägliche Kopfgeldmissionen hinzu. Des Weiteren hat jedes Gebiet einen eigenen Erkundungsfortschrittsbalken, wo ihr für das Erreichen bestimmter Meilensteine einen Lohn erhaltet. Dann könnt ihr noch alle paar Stunden in Mi-as Küche vorbeischauen, wo euch ein kleines Robotermädchen (lernt ihr im Handlungsverlauf kennen) eine Speise kredenzt, die euch bufft – und ihr bekommt noch Belohnungen obendrauf. Ach ja, im Shop könnt ihr euch noch täglich eine Vorratskiste abholen. Und es gibt noch ein Achievement-System, über das ihr nochmals weitere Preise einheimst.
So, ich glaube, das war dann alles – es sei denn, ich schalte mit höherem Level noch mehr frei. Es ist jedenfalls bis hierhin schon viel zu viel und viel zu unübersichtlich. Weniger wäre deutlich mehr gewesen, aber nein: Als Service Game, das auch als Mobile-Version erhältlich ist, muss es natürlich alle paar Minuten etwas bieten, worauf man klicken kann, um eine Belohnung zu erhalten – und sei sie noch so klein.
Ich spüre die Suchtgefahr
Ich könnte an dieser Stelle noch weitere Kritikpunkte nennen, etwa die fehlerbehaftete Übersetzung oder das miese Questmenü (überhaupt ist die Menüführung keine Stärke des Spiels). Auch funktioniert das Klettern nicht so gut wie in Genshin Impact, weil sich mein Charakter nach einem Sprung in Richtung einer Kante nicht an jener festhalten kann, was mich schon das eine oder andere Mal Nerven gekostet hat.
Aber bei all dem Gemecker muss ich eben auch gestehen, dass mir Tower of Fantasy eine Menge Spaß macht. Nein, ich finde es nicht besser als Genshin Impact und es könnte sein, dass es mich wieder dazu verleitet, letzteres zu spielen, gerade wo doch kommende Woche das Update 3.0 mit der neuen Region Sumeru erscheint. Und dass ich beides parallel zocken wollen würde, wage ich mal zu bezweifeln. Dafür sind sich die Titel eben viel zu ähnlich.
Dennoch trifft Tower of Fantasy bei mir genauso einen Nerv wie Genshin Impact. Ich verliere mich leicht in der Welt, renne von einer Truhe zur nächsten, … obwohl ich doch schon vor einer Stunde die nächste Hauptquest spielen wollte! Mir macht das Kampfsystem Spaß, das zwar simpel ist, sich aber auch einfach sehr flüssig spielt. Und dadurch, dass ich häufiger kostenlos am Gacha-Automaten ziehen darf als bei der Konkurrenz, bekomme ich gefühlt öfter neue coole Dinge, was der Motivation zugute kommt. Daher würde ich sagen, dass sich ein Blick in Tower of Fantasy schon lohnt, wenn euch Genshin Impact gefällt – kostet ja erst mal nichts. Welchem Spiel ihr dann langfristig die Treue schwört, müsst ihr für euch selbst entscheiden. Beide haben ihre Vor- und Nachteile und auch wenn Tower of Fantasy in Teilen eine dreiste Kopie ist, hat es trotzdem seine Daseinsberechtigung.