In den meisten Spielen sind Standardgegner völlig gesichtslos. Nicht so in Mittelerde: Mordors Schatten und dessen Nachfolger, dem Nemesis-System sei Dank.
Die besten Features: Das Nemesis-System der Mittelerde-Spiele
Monolith Productions hat sich ab den späten Neunzigern einen Namen als Entwickler erstklassiger Ego-Shooter gemacht. Das Team aus Kirkland, Washington hat uns unter anderem die Klassiker No One Lives Forever und F.E.A.R. beschert. In den 2010er-Jahren hat man sich aber lieber einem anderen Genre gewidmet: Open-World-Action-Adventures. Dafür hat sich Monolith einer der größten Lizenzen überhaupt bedient. Die US-Amerikaner entwickelten für Warner Bros. ein Spiel in der Welt von "Der Herr der Ringe". 2014 erschien jener Titel namens Mittelerde: Mordors Schatten. Er wurde ein voller Erfolg und fuhr insgesamt auch gute Kritiken ein, dennoch kommt man nicht umhin anzumerken, dass er eigentlich ziemlich generisch ist.
Die Struktur der Spielwelt? Komplett von den Ubisoft-Open-Worlds der damaligen Zeit abgeschaut. Das Kampfsystem? Fast eins zu eins das aus der "Batman: Arkham"-Reihe. Innovativ ist hier gar nichts gewesen – bis auf das Nemesis-System.
Klonarmee? Wir sind doch nicht bei Star Wars
In Mittelerde: Mordors Schatten spielt ihr den Waldläufer Talion, der zu Beginn der Handlung mitansehen muss, wie Orks seine Familie abschlachten. Er sinnt nun auf Rache und begibt sich deshalb direkt nach Mordor. Dass sich ihm dessen Bewohner scharenweise entgegenstellen, dürfte niemanden überraschen. Doch während die in jedem anderen Spiel bloß in unterschiedliche Gegnertypen eingeteilt und ansonsten mehr oder weniger eine Armee aus Klonen wären, hat sich Monolith etwas Besonderes einfallen lassen, um den Orks mehr Leben einzuhauchen.
Die Macher von Mittelerde: Mordors Schatten bevölkern die Spielwelt mit prozedural generierten Dienern Saurons, die jeweils unterschiedliche Eigenschaften und sogar allesamt eigene Namen haben. Sie legen zudem verschiedene Verhaltensweisen an den Tag und haben dadurch einen eigenen Charakter. Klar, nicht jeder Ork oder Uruk ist einzigartig. Wiederholungen lassen sich bei prozeduraler Generierung nun mal nicht vermeiden. Es ist auch nicht so, als würden sich in einem No Man's Sky niemals zwei Planeten einander stark ähneln.
Das Nemesis-System geht aber noch weiter: Die Orks sind in Ränge unterteilt und euer Handeln hat Einfluss auf die Hierarchie. Tötet ihr einen Häuptling, wird jemand anders nachrücken – vielleicht ja jemand, der euch wiederum im Kampf besiegt hat. Der steigt dadurch nämlich im Level auf, wird stärker und kann eben auch einen höheren Rang erreichen. Es kann passieren, dass euch ein bestimmter Ork immer wieder in der Welt begegnet, den Hintern versohlt und am Ende einer der Obermacker in Mordor ist. Der Name "Nemesis-System" kommt eben nicht von ungefähr. Mittelerde: Mordors Schatten generiert für euch potenzielle Erzfeinde, auf die ihr irgendwann einen richtigen Hass entwickelt, weil sie euch ständig in den ungünstigsten Momenten zum Kampf herausfordern und niederstrecken. Das mag zwar nicht die elaborierteste Form von Emergent Storytelling sein, aber es ist mehr, als viele andere Spiele zu bieten haben.
Der Triumph gelingt erst im zweiten Anlauf
Leider ist das Nemesis-System in Mittelerde: Mordors Schatten jedoch weit unter seinen Möglichkeiten geblieben – und hat im Spiel auch keinen allzu großen Stellenwert. Es wirkt hier noch eher wie ein Zusatz-Feature, das nicht elementarer Bestandteil des Kernkonzepts ist. Das merkt man vor allem daran, dass ihr auf eine bestimmte Funktion des Ganzen erst sehr spät im Spielverlauf Zugriff erhaltet: die Möglichkeit, Orks zu unterwerfen, damit sie für euch kämpfen. Ihr könnt sie dann dabei unterstützen, in der Rangreihenfolge nach oben zu klettern (und müsst das fürs Voranschreiten in der Story auch ein paar Mal machen). Das ist cool, aber es dauert einfach viel zu lange, bis dieses Element ins Spiel kommt.
Nein, in Mordors Schatten ist das Nemesis-System noch zu unterentwickelt – ein nettes Gimmick, das so viel mehr sein könnte. Aus dem Fehler hat Monolith zum Glück gelernt und es im Nachfolger Mittelerde: Schatten des Krieges viel besser gemacht. Gut, der hat dafür andere Probleme gehabt (Stichwort Lootboxen), aber das klammern wir an dieser Stelle mal großzügig aus. Das Nemesis-System an sich ist in dem Sequel von 2017 fantastisch. Darin dreht sich ein Großteil des Spiels schließlich wirklich darum, eine eigene Armee aus Orks, Uruks und Trollen aufzubauen und mit ihr in den einzelnen Gebieten gewaltige Festungen zu erobern.
Die Diener des Bösen sind in Schatten des Krieges nochmal deutlich vielfältiger als im Vorgänger, so dass es eine helle Freude ist, nach besonders coolen Charakteren Ausschau zu halten, die man dem eigenen Gefolge hinzufügt – vor allem deshalb, weil ihr auch stets einen von ihnen zu eurem Leibwächter ernennen könnt, damit er euch begleitet und im Kampf zur Seite steht. Es kann aber auch passieren, dass eure Untergeben euch verraten, niedermetzeln, dadurch im Rang aufsteigen und ihr euch später mit ihnen einen epischen Kampf liefert, um Rache zu nehmen.
Wir kratzen an dieser Stelle nur an der Oberfläche. Das Nemesis-System in Mittelerde: Schatten des Krieges bietet so viel Tiefgang, dass ihr allein damit etliche Stunden verbringen könnt, ohne währenddessen auch nur eine Story-Mission zu spielen. Und glücklicherweise gibt es die Lootboxen und damit verbundenen Mikrotransaktionen heute gar nicht mehr in dem Spiel. All das und die damit verbundenen Schwachpunkte des Endgames (das extra in die Länge gestreckt war, um euch zum Geldausgeben zu motivieren) wurden 2018 herausgepatcht. Somit kann man das Nemesis-System (und auch das restliche Spiel natürlich) mittlerweile ohne faden Beigeschmack genießen.
Wieso kopiert das keiner?
Nun hat sogar schon Mittelerde: Schatten des Krieges fünf Jahre auf dem Buckel und trotzdem hat bislang niemand das Nemesis-System adaptiert, obwohl es ein so hochgelobtes Feature ist? Nun, das hat einen guten Grund: Warner Bros. hat ein Patent dafür angemeldet. Das wurde zwar erst 2021 bewilligt, aber auch zuvor hat niemand das System kopiert. Das einzige Spiel, das zumindest ein ähnliches Feature bietet, ist Assassin's Creed Odyssey. Darin gibt es eine lange Liste an Söldnern mit besonderen Eigenschaften, die auf euch Jagd machen, wenn ein Kopfgeld auf euch ausgesetzt ist. Aber all das, was das Nemesis-System auszeichnet (das Aufleveln der NPCs und die Rekrutierungsoption etwa) fehlt an dieser Stelle.
Die gute Nachricht ist: Es ist ein Titel am Horizont zu sehen, in dem es das Nemesis-System oder besser gesagt eine erweiterte, verbesserte Form davon geben könnte. Monolith ist schließlich nicht untätig, sondern arbeitet an einem Wonder-Woman-Spiel. Dazu gibt es jedoch noch keine genaueren Infos und es hat auch noch keinen Release-Termin. Aber wir fressen einen Besen, wenn das Studio nicht an dem herausstechenden Feature seiner beiden vorherigen Werke festhält.