Lust auf einen Shooter wie Half-Life 2? Industria bietet, was ihr sucht, aber erwartet keinen Top-Titel.
Industria im Test: Kleiner Rohdiamant mit deutscher Beteiligung
Singleplayer-Ego-Shooter sind heutzutage vor allem laut, bombastisch und mit flottem Spieltempo. Kaum noch bekommen wir innerhalb des Genres Erlebnisse wie Half-Life oder BioShock geboten, in denen zwar auch recht viel geballert wird, die sich dennoch mal Zeit nehmen für ruhige Momente, Erkundung oder gar Rätsel. Mit Industria ist jüngst genau so ein Titel für den PC erschienen. Hier steht zwar die Action im Vordergrund, aber laut und bombastisch ist das Ganze überhaupt nicht.
Das hätte das im Kern aus nur zwei Mann bestehende Studio Bleakmill vermutlich auch gar nicht hinbekommen. Das Team macht den Eindruck, als wüsste es genau, wie groß die eigenen Ambitionen sein durften. Industria ist mit drei bis vier Stunden Spielzeit ein sehr kurzes Vergnügen und aufs Wesentliche reduziert – gut so! Es entführt euch dabei in eine interessante Welt und bereitet vor allem Half-Life-Fans schöne Stunden, wenn sie denn bereit sind, Kompromisse einzugehen. Industria ist durch und durch ein Low-Budget-Spiel, was prinzipiell kein Problem ist, wenn man sich das bewusst macht. Schade ist nur, dass es Bleakmill nicht nur an Geld, sondern zum Teil auch an handwerklichem Knowhow gemangelt hat.
Wenn der Mauerfall für dich zur Nebensache wird
Zu Beginn von Industria seid ihr in Berlin. Es ist der 9. November 1989 und Hauptfigur Nora wacht auf ihrem Sofa auf. Ein Anruf ihres Lebenspartners Walter holt sie aus dem Schlaf. Der informiert sie nicht nur darüber, dass gerade ein historisches Ereignis am Gange ist (der Mauerfall, was denn sonst?), sondern auch über die Probleme bezüglich seiner und Noras gemeinsamer Arbeit: Die Recheneinheit ATLAS, die sie entwickelt haben, sei außer Kontrolle geraten und habe sich auf allen Servern breitgemacht. Hinzu komme, dass das Büro geschlossen wurde und die Stasi vor Ort sei, um alles auseinanderzunehmen. Walter müsse aber unbedingt ATLAS aufhalten. Er meint nur, dass er „jetzt los“ müsse, Nora nicht mit hineinziehen wolle und sie liebe. Dann legt er einfach auf. Nora kann das nicht so stehen lassen und macht sich sofort auf den Weg ins Büro, wo sie aber niemanden vorfindet.
Sie findet heraus, dass ihr Geliebter in die große Maschine gegangen ist, die im Untergrund des Bürogebäudes steht. Ja, das klingt komisch, aber genauso formuliert es Industria selbst. Und weil Nora Walter nun mal nicht loslassen kann (im übertragenen Sinne), tut sie es ihm gleich. Daraufhin gerät sie in eine Paralleldimension. Dort erkundet sie eine menschenleere Stadt, die von Maschinenwesen überrannt wurde. Von Walter fehlt jede Spur, obwohl er nur wenige Minuten vor ihr dort angekommen sein muss. Ihr einziger Kontakt ist ein fremder Mann, den sie am Anfang nur aus der Ferne sieht und danach lediglich per Funk erreicht. Mit seiner Hilfe versucht Nora, Walter zu finden.
Wir können an dieser Stelle nicht ins Detail gehen, was unsere Kritikpunkte an der Story von Industria betrifft, da wir dann zu viel vorwegnehmen müssten. Daher bleiben wir an dieser Stelle vage, was aber ausreicht, um zumindest grob die Schwächen zu umreißen. Bleakmill gelingt es nicht, auf erzählerischer Ebene zu begeistern. Das Grundszenario und die Prämisse der Handlung bieten enormes Potenzial. Industria baut Mysterien auf, die wir gerne gelüftet sehen wollten. Die Parallelwelt ist definitiv interessant und gerne hätten wir mehr über deren Historie erfahren. Leider bleibt das Spiel hier aber sehr oberflächlich, woran auch die diversen Schriftstücke kaum etwas ändern, die in den Levels verteilt sind. Und dann ist da noch ein Ende, dass komplett offen ist. Es liefert auf eine Frage eine Antwort, die wir uns aber vorher schon selbst zusammenreimen konnten, während alles andere im Dunkeln gelassen wird. Wenn der Abspann beginnt, wissen wir nicht einmal über das Schicksal von Nora Bescheid, was sehr unbefriedigend ist.
Tod den Maschinen!
Die gute Nachricht ist: Spielerisch schlägt sich Industria deutlich besser. Die schlechte: Auch hier ist nicht alles tadellos. Das fängt bei den Kämpfen an. Anfangs steht euch nur eine Spitzhacke zur Verfügung. Mit der könnt ihr zwar auf die euch feindlich gesinnten Maschinen einschlagen, effektiver ist es aber, sie an Stellen zu locken, wo heißer Dampf aus einem Rohr austritt. Das Spiel weist euch nicht darauf hin, dass ihr sie so schneller besiegen könnt. Umso mehr haben wir uns darüber gefreut, dass das wirklich funktioniert hat. Schade nur, dass sich solche Elemente im späteren Spielverlauf nicht mehr vorfinden lassen.
Sobald ihr die Pistole, die erste von vier verschiedenen Schusswaffen, erhaltet, schießt ihr einfach jeden Gegner mit recht wenigen Kugeln zu Schrott. Die auf fünf Stück begrenzten Gegnertypen (was genau wie bei den Argumentationsverstärkern aufgrund der kurzen Spielzeit und des offensichtlich niedrigen Budgets verschmerzbar ist) stellen auf dem normalen Schwierigkeitsgrad keine große Gefahr dar. Wer es knackiger haben möchte, spielt im Hardcore-Modus, muss dann aber auch auf die automatische Speicherfunktion verzichten. Manuelles Speichern geht zudem in beiden Modi nicht jederzeit, sondern nur wie in Resident Evil mithilfe von Schreibmaschinen, die an festen Orten in den Levels stehen.
Die Waffen (neben der Pistole gibt es noch eine MP, eine Schrotflinte und ein Scharfschützengewehr) fühlen sich allesamt gut an und die Steuerung ist einwandfrei. Allerdings schwankt die Qualität des Trefferfeedbacks. Einer der vier Gegnertypen zerspringt in diverse Einzelteile, wenn ihr ihn besiegt, was sehr befriedigend ist. Ein anderer wiederum fängt bloß an zu qualmen, bevor er den Geist aufgibt und einfach umfällt, was sich nicht sonderlich gut anfühlt.
Angenehm langsam
Wie eingangs erwähnt, wird in Industria nicht nur geballert. Das Spieltempo ist durchgehend niedrig. Selbst dann, wenn ihr es in einem größeren Areal mit immer wieder nachspawnenden Feindgruppen zu tun bekommt, bis ihr alle nötigen Schalter umgelegt habt, um den Level verlassen zu können (nicht gerade ein Glanzmoment von Industria) wirkt das Ganze immer noch recht langsam und wenig energiegeladen. Das meinen wir aber gar nicht negativ, ganz im Gegenteil. Uns gefällt es, mal einen Shooter präsentiert zu bekommen, der das komplette Gegenteil zu Call of Duty, Doom und Co darstellt.
Wir haben es richtig genossen, die linearen, aber nie zu engen Schläuche zu erkunden. Ständig gerieten wir an Weggabelungen, konnten zum Beispiel in Häusern mehrere Wohnungen betreten und vielleicht etwas Munition, Heil-Items, Batterien für die Lampe (es gibt viele dunkle Passagen) oder Schriftstücke finden. Gerade zu Spielbeginn setzt Industria auch verstärkt auf Rätsel. An einer Stelle etwa müsst ihr ein Garagentor öffnen, das dafür zuständige Rad ist aber so stark verrostet, dass es sich nicht bewegen lässt. Im Raum nebenan findet sich eine Apparatur, mit der ihr Phosphorsäure herstellen könnt, wie es auf einer Tafel erklärt ist. Zufälligerweise stehen in dem Gebäude mehrere Automaten, die jeweils eine andere Chemikalie ausgeben. Ihr solltet dann nur nicht die falschen Zutaten miteinander mischen.
Ok, wirklich anspruchsvoll ist dieses Rätsel nicht und das gilt auch für den Rest. So was lockert das Spielgeschehen aber angenehm auf. Gleiches gilt für Szenen, in denen ihre eine erhöhte Ebene erreichen müsst, um weiterzukommen. Nun kann Nora weder sonderlich hoch springen, noch ist sie eine gute Kletterin. Aber wie in Half-Life 2 könnt ihr etliche Objekte in die Hand nehmen und durch die Gegend tragen – auch Kisten, die sich so stapeln lassen, dass ihr euch eine provisorische Treppe bauen könnt.
Ein Spiel ohne echte Höhepunkte
Schade ist nur, dass in der zweiten Spielhälfte Momente, in denen ihr mal kurz euer Hirn anschmeißen müsst, eine echte Rarität sind. Trotz der überschaubaren Spielzeit gelingt es Industria nicht, das Niveau zu halten. Hinzu kommt, dass dem Spiel die Highlights fehlen. Es gibt weder Bosskämpfe noch irgendwelche erinnerungswürdigen Skriptsequenzen. Letzteres ist sicherlich auch dem kleinen Entwicklerteam geschuldet, aber es fällt eben negativ auf – auch weil es keine Levels gibt, die so cool designt sind, dass sie uns im Gedächtnis bleiben.
Abgesehen vom Prolog im Berlin des Jahres 1989 und dem Ende seid ihr die ganze Zeit in der verlassenen Stadt unterwegs, die eine sehr begrenzte Farbpalette hat. Braun, Grau und Beige dominieren hier. Ab und zu gibt es mal ein wenig Grünzeug. Stilistisch ist die Welt von Industria jedoch toll. Die altmodische Architektur der Gebäude ist sicherlich von Berlin inspiriert. Aufgrund der seltsamen runden Objekte der Maschinen, die sich überall finden (keine Ahnung, was das für Dinger sind) und den vielen Kabeln, die sie miteinander verbinden, erinnert das alles auch durchaus an City 17 aus Half-Life 2, wo sich die futuristischen Bauten der Combine ebenfalls mit eher älteren Gebäuden abwechseln.
Schwankende optische Qualität
Dass man als Industria-Spieler in Sachen Präsentation einige Abstriche machen muss, versteht sich angesichts der Größte des Projekts und seines Entwicklers von selbst. Was die Grafik betrifft, hätte Bleakmill aber durchaus bessere Arbeit abliefern können. Deren Qualität schwankt nämlich recht stark. Die Stadt sieht mit ihren detaillierten Häuserfassaden und der gelungenen Beleuchtung stimmig aus. Auch in den düsteren Passagen gibt Industria dank gelungenem Licht-und-Schatten-Spiel ein ordentliches Bild ab.
Offene, weitere Flächen bei Tageslicht wiederum begeistern uns nicht unbedingt, weil es ihnen an Details mangelt. Am Ende des Spiels seid ihr zudem in freier Natur unterwegs und da wirkt Industria eher wie ein PS3-Titel. Zudem macht sich Assett-Recycling sehr stark bemerkbar. Viele Wohnungen im Spiel zum Beispiel sehen exakt gleich aus. Schade ist auch, dass es zwar Raytracing-Reflexionen, -Schatten und -Umgebungsverdeckung gibt, die aber selbst auf unserem Testrechner mit einer RTX 3080 Ti in den weitläufigeren Arealen für eine suboptimale Bildrate gesorgt haben – trotz gerade mal 1080p und DLSS. Also haben wir die RTX-Features flott deaktiviert, woraufhin Industria absolut flüssig lief. Vielleicht können hier noch Patches nachhelfen.
Vollends zufrieden sind wir dafür mit dem Sound. Die Dialoge zwischen Nora und dem Fremden, der ihr den Weg durch die Stadt weist, sind ordentlich eingesprochen. Eine deutsche Sprachausgabe gibt es jedoch trotz der Tatsache, dass die eine Hälfte von Bleakmill in Berlin sitzt, nicht. Ärgerlicherweise sind zudem die deutschen Texte nicht fehlerfrei. Kommas finden sich selten an den Stellen, wo sie hingehören, und auch der eine oder andere Tippfehler hat sich eingeschlichen. Die Effekte der Waffen und Maschinen klingen gut und Musik ist in Industria zwar rar, aber wenn sie erklingt, dann stets passend zum Spielgeschehen. Meistens ist sie daher sehr ruhig und unterstreicht damit prima die Einsamkeit, die Nora in der menschenleeren Stadt verspürt.
Fazit
Wir mögen Industria. Man merkt dem Spiel an, dass es ein Herzensprojekt von Leuten ist, die sich Half-Life, insbesondere den zweiten Teil der Reihe, zum Vorbild genommen haben. Wer auf Shooter dieser Art steht und es genauso schade wie wir findet, dass es die viel zu selten gibt, wird hiermit eine gute, wenn auch kurze Zeit haben. Allerdings muss man eben viele Kompromisse eingehen. Manche der Schwächen lassen sich mit den geringen Ressourcen der Entwickler erklären, andere nicht. Gerade die Story hat sich nach hinten heraus als großer Schwachpunkt herausgestellt, weil sie nicht die Versprechen einlöst, die die interessante Prämisse gibt. Industria ist daher keine Indie-Perle, sondern eher ein Rohdiamant, der noch viel mehr Feinschliff nötig gehabt hätte. Trotzdem sind wir froh, es gespielt zu haben, weil es eine schöne Abwechslung von den Hochglanz-Bombast-Shootern der heutigen Zeit ist. Es wäre aber noch so viel mehr drin gewesen.
- Mix aus Action, Erkundung und Rätseln
- Angenehm entschleunigt
- Interessante Prämisse
- Solide Shooter-Mechanik
- Gute Sprecher und Musik
- Stimmiger Look, ...
- ... teilweise aber auch optisch veraltet
- Unbefriedigendes Ende
- Lore bleibt zu oberflächlich
- Trefferfeedback-Qualität schwankt
- Kaum noch Rätsel in zweiter Hälfte
- Schlechte Performance mit Raytracing