Immortality stellt die ganz großen philosophischen Fragen der Kunst und spielt dabei immer wieder gekonnt mit der Erwartungshaltung der Spieler.
Immortality im Test: Mehr Erfahrung als ein Spiel
Wie bewertet man ein Spiel, das gar keines ist und auch keines sein möchte? Wie bespricht man etwas, das ausschließlich über die erzählte Geschichte funktioniert, ohne zu viel davon zu verraten? Der folgende Text ist vermutlich weniger ein klassischer Test, sondern versucht mehr, euch zu erklären, warum jeder lebende Mensch auf diesem Planeten mindestens einmal Immortality anwerfen sollte.
Sam Barlow, der kreative Kopf hinter dem Projekt, hat bereits zuvor zwei Spiele ähnlicher Art entwickelt. Allerdings seid ihr in seinen Vorgängerwerken Her Story (2015) und Telling Lies (2019) noch mehr oder weniger simplen Mysterien auf den Grund gegangen. Mit Immortality wagt Barlow den nächsten großen Schritt und beschäftigt sich äußerst wortgewandt mit großen Fragen der Kunstphilosophie.
Am Anfang steht das Mysterium
Immortality startet für das Gewicht, das es entwickelt, recht unspektakulär. Bevor ihr überhaupt etwas vom eigentlichen … Spiel(?) … seht, erscheint ein kleiner Text, der euch "Die kurze Geschichte der Marissa Marcel" erzählt. Marissa Marcel ist eine fiktive Schauspielerin und Model, der in den späten 1960er Jahren eine große Filmkarriere prophezeit wurde. Tatsächlich spielte sie auch in drei Filmen mit. Diese sind allerdings aus mysteriösen Gründen allesamt nie erschienen. Zwischen den drei Filmprojekten vergingen teils über mehrere Jahrzehnte. Was mit Marissa nach ihrem letzten Film passierte und wo sie sich heute aufhält, ist unbekannt. Allerdings, so verspricht es euch der Text, mag sich die Lösung des Mysteriums irgendwo im vorliegenden Filmmaterial befinden, das Barlow und sein Team 2020 gefunden haben und jetzt der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen.
Jetzt geht es richtig los. Im Gegensatz zu Barlows vorherigen Projekten steht euch nicht von Anfang an das gesamte Material zur Verfügung. Stattdessen startet ihr mit einer Aufnahme, die Marissa Marcel bei einem Interview in einer Late Night Show in den späten 60ern zeigt. Ab diesem Punkt kommen die wenigen Gameplay-Mechaniken zum Einsatz. Ihr könnt das Material jederzeit pausieren, schneller oder auch rückwärts abspielen. Pausiert ihr eine Szene, öffnet sich im unteren Bildschirmbereich ein kleines Tool-Set, das unter anderem ein Augensymbol beinhaltet. Wählt ihr das aus, könnt ihr innerhalb der pausierten Szene wie in einem Point-and-Click-Adventure auf Points of Interests klicken. Das sind in der Regel die Gesichter der Schauspieler oder auch markante Objekte wie Filmrequisiten oder andere Gegenstände, die von den Figuren häufig benutzt werden.
Sobald ihr eure Auswahl mit einem Klick bestätigt, gelangt ihr zu einer ähnlich komponierten Szene, die dann in eurer Bibliothek gespeichert wird. So schaltet ihr nach und nach alle Clips in Immortality frei und schafft euch eine erzählerische Kontinuität. Während ihr euch so durch eure Videos klickt, ist die gesamte Optik des Spiels im Design einer Moviola-Maschine gehalten. Das sorgt ganz beiläufig für ein angenehm nostalgisches Gefühl. In einer vordigitalisierten Zeit wurde mit diesen Maschinen Filmmaterial betrachtet und geschnitten. Und das passt gut, denn immerhin wühlt ihr euch durch alte Filmaufnahmen.
Das unendliche Filmarchiv
Eine ganze Zeit lang klickten wir uns durch das Material, ohne so richtig zu wissen, worauf das hier eigentlich alles hinausläuft. Wir begutachten Aufnahmen aus den 1960er Jahren, die dem Film "Ambrosio" zugeordnet werden (einer Interpretation des Romans "The Monk" von 1796), schauten uns Aufnahmen der Proben an oder wühlten uns durch private Videos von Partys. Irgendwann machte es unweigerlich "Klick!", denn erste Muster taten sich auf. Sobald dieser Moment erreicht war, gaben wir unser erstes Ziel auf, alle drei Filme vollständig zu sammeln und zu sichten, und verfolgten den Ansatz unserer Theorie, die sich gerade frisch entwickelt hatte.
Fast schon wie im Wahn durchsuchten wir das Material nach Anhaltspunkten, die zu unserer Theorie passten. Ab diesem Punkt entfaltet Sam Barlow mit Immortality seine gesamte Genialität. Fast schon beiläufig gelingt es ihm, der Geschichte immer weitere Schichten an Komplexität hinzuzufügen. Zum Beispiel können wir mithilfe einer eben gewonnen Information ganz andere Schlussfolgerungen und weitere Details aus einer früheren Szene ziehen. So gruben wir uns immer tiefer in das Mysterium hinter Marissa Marcel, das mit fortschreitender Story immer größere Ausmaße annimmt.
Ohne zu viel zu verraten: Es geht bald nicht mehr nur darum, was genau eigentlich mit der Schauspielerin aus Frankreich passiert ist. Stattdessen setzt sich Barlow in Immortality mit den Fragen auseinander, was eigentlich Kunst ist und wie weit Opferbereitschaft gehen darf, rechnet nebenbei auch noch gekonnt mit der zutiefst sexistischen Welt Hollywoods ab und führt euch gerne immer mal wieder an der Nase herum. Hier können wir nicht zu viel verraten, ohne derbe zu spoilern, aber so viel sei noch erwähnt: Barlow spielt immer wieder mit eurer Erwartungshaltung. Besonders was Genrekonventionen angeht, solltet ihr euch auf die eine oder andere Überraschungen vorbereiten.
Das ganze Werk und seine Erzählung würden ohne die hervorragenden Schauspieler vermutlich sehr schnell in sich zusammenfallen. Die Darsteller verleihen ihren Figuren eine derartige Tiefe, Glaubwürdigkeit und Qualität, wie es in den Breitengraden der Games-Branche leider nur sehr selten vorkommt. Besonders Manon Gage, die Marissa Marcel verkörpert, macht einen ausgezeichneten Job. Das wird gerade dann deutlich, wenn wir von einem Filmprojekt zum nächsten springen, zwischen denen teils viele Jahre liegen. Anfangs beobachten wir die leicht nervöse Marissa bei ihrem ersten Interview und ihren ersten Gehversuchen in “Ambrosio”. Später zeigt Manon Gage glaubhaft, dass die grausame Welt Hollywoods nicht spurlos an ihrer Rolle vorübergegangen ist.
Am Ende steht ein viel größeres Mysterium
Irgendwann lässt sich die Frage, was eigentlich mit Marissa Marcel passiert ist, relativ leicht und zuverlässig beantworten. Auf dem Weg dorthin stoßt ihr allerdings auf immer größere Verstrickungen und Handlungsbögen. Da fällt es stellenweise etwas schwer, den Überblick zu behalten. Zumal ihr an irgendeinem Punkt auf die Meta-Geschichte aufmerksam werdet, die alle bisherigen Erkenntnisse mindestens in einem anderen Licht dastehen lässt oder gar, je nach persönlicher Interpretation, alles zuvor Gesehene völlig über den Haufen schmeißt.
Was letzten Endes hinter Immortality steht, muss jeder für sich selbst herausfinden. Mit zunehmenden Handlungsschichten und steigender Komplexität existieren keine klaren und einfachen Antworten mehr. Ein Stück weit hängt es auch von euch ab, welche Fragen ihr überhaupt beantworten haben möchtet und ab welchem Punkt ihr euch mit euren Antworten zufrieden gebt. Es gibt zwar einen Abspann, wenn ihr das Hauptspiel durchgespielt habt, allerdings bedeutet das noch lange nicht, dass ihr auch tatsächlich jede Erzählschicht durchdrungen habt. Tatsächlich lässt sich Immortality auch dann "durchspielen", wenn ihr große Teile noch gar nicht gesehen habt. Bevor wir Immortality starteten, konnten wir uns nicht ausmalen, was für ein gigantischer Komplex hinter der Frage "Was ist mit Marissa Marcel passiert?" lauert.
Fazit
Sam Barlow ist mit Immortality vermutlich nichts Geringeres als ein absolutes Meisterwerk gelungen. Es mag schwer fallen, Zugang zu diesem Werk zu finden. Gerade weil es sehr einfach ist, große Versatzstücke durch Zufall oder auch Pech schlicht zu übersehen. Gelingt es aber, den etwas drögen Einstieg zu überwinden, entfaltet sich eine Erzählung mit so viel Wucht und Tiefgang, die noch lange im Gedächtnis bleibt. Spiele, die noch lange nach dem Ausschalten beschäftigen und über die wir nachdenken, obwohl wir uns weit entfernt von ihnen befinden, sind extrem rar. Immortality gehört ohne jeden Zweifel zu ihnen. Jeder, ausnahmslos jeder lebende Mensch, sollte diesem Spiel, das eigentlich keins ist, unbedingt eine Chance geben.
- Hervorragendes Writing
- Nostalgisches Moviola-Design
- Ausgezeichnete Schauspieler
- Interessantes Mysterium
- Noch interessantere Geschichte
- Noch viel interessantere Meta-Erzählung
- Nichts ist, wie es scheint
- Sortieren der Aufnahmen teils unübersichtlich
- Zäher Einstieg