Jens spielt seit Tagen Escape from Tarkov so intensiv wie nie zuvor, obwohl es ihn jedes Mal zur Weißglut treibt.
Escape from Tarkov: Spielspaß mit schmerzhaften Nebenwirkungen
„PENG!“ Mit diesem lauten Geräusch und einem Treffer in meinen linken Arm wird meine ruhige Suche nach ein paar Rubel in den Kassen der Tankstelle im Industriegebiet von Tarkov abrupt unterbrochen. Ich schaue in die Richtung, aus der der Schuss kam und erblicke einen gegnerischen Söldner, der im Türrahmen des Hintereingangs steht. Er schließt die Tür – vor sich. „Da will wohl jemand Spielchen spielen.“ Ich verharre für ein paar Sekunden an Ort und Stelle, begutachte meine Wunde, verbinde sie mit einer Bandage, um die Blutung zu stoppen. Der Kerl kommt nicht, wie ich es mir gedacht habe, durch den Vordereingang in das Tankstellengebäude hinein. Ich erhebe mich und verlasse das Bauwerk durch den Hintereingang, meine Waffe stets im Anschlag. „Ein typischer Tag in Escape from Tarkov“, denke ich mir und sitze mit Angstschweiß auf der Stirn vor dem Bildschirm.
Ich sehe den Schützen nicht, aber ich kann seine Schritte hören. Ich laufe nach rechts und plötzlich schießt der Dreckskerl mir in den Rücken. Mehrere Wunden klaffen auf, ich habe nicht mehr das nötige medizinische Material, um meinem Tod zu entkommen. Der Feind hat sich wieder zurückgezogen, aber ich kann ihn nach wie vor hören. „Ok, das war's für mich, aber das A****loch nehme ich noch mit in die Hölle!“ Ich kann kaum noch laufen, aber mein Gewehr benutzen, das ist noch drin. Ich laufe um die Tankstelle herum, darauf vorbereitet, dass mein baldiger Mörder mir jederzeit entgegenkommt und ich ihn wegpuste.
Das Problem: Statt einer schnellfeuernden Maschinenpistole oder einer kraftvollen Schrotflinte habe ich ein Jagdgewehr. Nur durch einen gezielten Schuss in den Kopf meines Widersachers kann ich ihm noch alle Lichter ausknipsen. Einen zweiten Treffer würde ich aufgrund der langsamen Schussfrequenz meines Tötungswerkzeugs wohl nicht mehr landen können, wenn er direkt vor mir steht. Dann taucht er vor meiner Nase auf, ich lege an, verfehle ihn in der Hektik und er verpasst mir den Gnadenstoß. Ich ärgere mich kurz, aber komme dann zu dem Schluss: Dieser Moment war noch einer der besseren, die ich bislang in Escape from Tarkov erlebt habe.
Frust – Das Spiel
Stünde der Begriff „Hardcore-Shooter“ im Duden, würde ich darauf bestehen, dass Escape from Tarkov als allererstes Beispiel dafür angeführt wird. Denn was der russische Entwickler Battlestate Games hier geschaffen hat, ist nicht nur deshalb so „hardcore“, weil es eine irre große Komplexität besitzt, sondern vor allem, weil es so unbarmherzig ist. Kein Spiel hat mich jemals so frustriert wie Escape from Tarkov, zumindest seit ich kein Kind mehr bin, das schon beim ersten Boss in Donkey Kong Country 3 gnadenlos versagt. Kein Soulsborne- oder Souls-like-Spiel auf dieser Welt hat mich jemals so sehr in den Wahnsinn getrieben, keine Niederlage in Counter-Strike sich so frustrierend angefühlt wie einzelne Tode in Escape from Tarkov.
Ich habe schon mehrere Runden erlebt, in denen bei mir nach spätestens zwei Minuten alle Lichter ausgingen – entweder, weil ich nichtsahnend um eine Ecke und somit direkt in den Lauf eines anderen Spielers gelaufen bin, oder aufgrund eines Kopfschusses aus der Distanz, den ich noch nicht einmal gehört habe. Plötzlich sackte mein Charakter einfach tot zusammen und es gab nichts, was ich hätte tun können, um das zu verhindern.
Solche Bildschirmtode sind deshalb so frustrierend, weil sie gleichbedeutend damit sind, dass man alles, was man bei sich trägt, verliert: seine Waffen und Schutzkleidung, Munition, Medikamente, Nahrungsmittel sowie all die Beute, die man im selben Match eingesackt hat. Man kann zwar die Ausrüstung, mit der man in einen Raid geht (so heißen die Runden in Escape from Tarkov), vorher gegen Spielwährung versichern, bekommt sie am nächsten Tag aber nur dann zurück, wenn sie sich kein anderer Spieler unter den Nagel gerissen hat. Wenn man dann auch noch aus heiterem Himmel und in Sekundenschnelle getötet wird, macht das Verlieren wirklich keinen Spaß. In einer Partie Mensch ärgere dich nicht zu versagen, fühlt sich im Vergleich dazu fast schon wie ein Triumph an.
Ich kann nicht aufhören
Also ja, Escape from Tarkov regt mich regelmäßig fürchterlich auf und immer wieder gibt es die Situationen, in denen ich nach so einem frustrierenden Ableben denke: „Ne, Spiel, du kannst mich mal! Ich mach' jetzt was anderes!“ … Und dann fällt mir auf, dass ich ja wieder eine Runde als Scav, also quasi auf Seite der KI-Gegner spielen darf. In dem Fall spielt man nicht seinen eigenen Charakter, bekommt Ausrüstung gestellt und kann somit nichts verlieren, was man sich nicht in einer vorherigen Partie erarbeitet hat. Man geht also keinerlei Risiko ein. „Na gut, dann spiele ich wohl doch noch weiter.“
Solche Momente habe ich schon oft gehabt und sie verwundern mich gar nicht. Trotz allen Ärgers, den mir Escape from Tarkov bereitet, kann ich aktuell nicht aufhören, es täglich zu spielen. So frustrierend es ist, so genial ist es auch. Dieses Spiel bietet mir eine Erfahrung, die kein anderer Shooter reproduzieren kann. Kein Konkurrent versetzt mich in so spannende Situationen. Wenn es möglich ist, all das zu verlieren, was ich bei mir trage, der Tod hinter jeder Ecke lauern kann und somit jeder Raid von der Ungewissheit darüber, wie er sich für mich entwickelt, dominiert wird, verspüre ich eine ganz besondere Form von Nervenkitzel. Und so, wie Escape from Tarkov zu schierer Verzweiflung führen kann, so kann es auch die intensivsten Glücksgefühle auslösen, die ein Multiplayer-Spiel jemals in mir geweckt hat.
Ein einzigartiges Spiel
Wenn ich mal einen anderen Spieler ausschalte und mir seinen Loot in die Tasche packe oder auch nur mehrere KI-Feinde ins Jenseits befördere sowie anschließend lebendig die Karte verlasse, löst das eine extreme Euphorie aus. Mag sein, dass auf die im nächsten Raid direkt wieder die totale Frustration folgt, aber dieser eine positive Augenblick und die ihm vorhergehende Spannung sind für mich unbezahlbar.
Nicht einmal das geniale Hunt: Showdown von Crytek, das durchaus einige Gemeinsamkeiten mit Escape from Tarkov hat, aber doch seinen ganz eigenen Weg beschreitet, treibt den Nervenkitzel auf ein so hohes Niveau. Gut, dafür ist es auch weniger frustrierend. Selbst in den Runden, in denen man seinen Jäger verliert und somit einen neuen hochleveln muss, sackt man in der Regel noch einiges an Erfahrungspunkten für den übergreifenden Account-Fortschritt sowie Geld ein. In Escape from Tarkov habe ich in vielen der oben erwähnten 2-Minuten-Raids absolut gar nichts bekommen. Wenn ich vorher nichts gelootet, keine mir bislang unbekannten Gegenstände untersucht oder etwa durch Sprints meinen Ausdauerlevel erhöht hatte, kehrte ich mit komplett leeren Händen heim. Dann gab es nicht mal ein paar popelige Erfahrungspunkte, sondern ich habe lediglich Zeit verschwendet und Ausrüstung verloren.
Da steckt noch viel mehr Gutes drin
Escape from Tarkov hat aber andere Qualitäten, die mich daran fesseln: das riesige Waffenarsenal und die vielen Möglichkeiten, die eigenen Knarren zu modifizieren, das fantastische Gunplay, die toll designten Maps mit ihrem Ostblock-Charme, die hübsche Grafik (was Battlestate Games aus der Unity Engine herausholt, ist beeindruckend), das sensationelle Sounddesign. Escape from Tarkov ist noch ein gutes Stück davon entfernt, fertig zu sein. Es ist eines dieser Spiele, die den Early Access scheinbar nie verlassen werden. Die Entwickler arbeiten aber mittlerweile schon so viele Jahre daran, dass der Umfang groß genug ist, um Hunderte Stunden Spaß zu haben. Nichtsdestotrotz haben die Russen noch viel Arbeit vor sich, wenn ihr Werk jemals das Betastadium verlassen soll.
Ich werde sie aber gerne auf diesem Weg begleiten. Theoretisch mache ich das schon seit Jahren, denn mein Kauf von Escape from Tarkov liegt lange zurück. Aber nie habe ich es so intensiv gespielt wie derzeit und hatte so viel Spaß dabei. Hat mich einstmals der Frustfaktor noch abgeschreckt, habe ich jetzt gelernt, mit ihm zu leben und mir die Freude am Spielen von ihm nicht verderben zu lassen – zumindest nie für mehr als ein paar Minuten.