Jens hat schon einige Stunden in der Welt von Genshin Impact verbracht und ist sowohl angetan als auch angewidert.
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Genshin Impact ist furchtbar und großartig zugleich
Ich sage beziehungsweise schreibe es gleich vorneweg: Das hier ist längst kein finales Fazit zu Genshin Impact. Ich habe erst ein paar Stunden mit dem neuen Action-Rollenspiel aus dem Hause miHoYo (Honkai Impact 3rd) verbracht und nur an dessen Oberfläche gekratzt. Aber ich wollte unbedingt die Gelegenheit nutzen und schon mal meinen Ersteindruck verschriftlichen. Denn das Spiel hat es geschafft, mich innerlich in zwei Hälften zu spalten. Die eine verurteilt Genshin Impact aufgrund seiner Gacha-Mechanik, die andere hat Riesenfreude am Gameplay, an der Erkundung der Open World und ist positiv erstaunt darüber, dass der Titel nicht nur recht hochwertig produziert, sondern auch noch komplett kostenlos spielbar ist. Man könnte von einer richtigen Hassliebe sprechen.
Das chinesische Breath of the Wild?
Bevor ich ins Detail gehe, sollte ich erst mal kurz erklären, was Genshin Impact eigentlich ist: Das Spiel ist seit dem 28. September für PC, PlayStation 4 und Mobilgeräte erhältlich, eine Switch-Version folgt zu einem späteren Zeitpunkt. Es ist, wie bereits erwähnt, ein Action-RPG mit Free-to-Play-Modell. Wer da jetzt jedoch an einen Konkurrenten für Path of Exile denkt, liegt falsch. Genshin Impact hat viel mehr Gemeinsamkeiten mit The Legend of Zelda: Breath of the Wild oder, um es etwas spitzer zu formulieren, Entwickler miHoYo hat sich ziemlich viel von dem Open-World-Hit aus dem Hause Nintendo abgeschaut, ja gar dreist kopiert.
Die Welt mit ihren saftigen Wiesen, idyllischen Siedlungen und hohen Bergen erinnert bereits auf den ersten Blick stark an die jüngste Inkarnation von Hyrule. Aber das ist längst nicht alles: Es gibt überall auf der Karte gegnerische Lager mit kleinen Aussichtstürmen, von wo aus stets ein Feind Ausschau hält, und Kisten, die sich erst öffnen lassen, wenn alle Monster besiegt sind. Gerne stehen auch mal explosive Fässer mittendrin, die ihr zu eurem Vorteil nutzen könnt. Außerdem könnt ihr nahezu überall hochklettern oder durch Flüsse und Seen schwimmen, wobei ihr Ausdauer verliert. Recht früh im Spiel erhaltet ihr Flügel, sodass ihr von höhergelegenen Orten abspringen und gemütlich über die Landschaft gleiten könnt.
Des Weiteren spielen Elemente eine wichtige Rolle in Genshin Impact. Gras ist entflammbar, auf Gewässern erschafft ihr quasi Brücken aus Eis. Darüber hinaus stolpert ihr immer wieder über kleine Rätsel in der Umgebung, bei denen oftmals eure Elementarfähigkeiten gefragt sind. Es gibt kleine Dungeons, die ein wenig an die Rätselschreine aus Breath of the Wild erinnern, ihr betet an Statuen, um eure Ausdauer zu erhöhen und dann ähneln auch noch viele Gegnertypen optisch den bekannten Widersachern aus Nintendos Genremeilenstein. Ja, miHoYo hat sich wirklich sehr intensiv von Breath of the Wild inspirieren lassen, das lässt sich nicht abstreiten.
Heiliger Spielautomat
Die Chinesen haben aber nicht nur kräftig abgeschrieben, sie versetzen ihr Spiel auch noch mit einem Gacha-System – oder wie wir es in westlichen Spielen nennen: Lootboxen. Und nein, diese Lootboxen enthalten nicht bloß kosmetische Items wie in Overwatch. Sie sind fester Bestandteil der Progression in Genshin Impact, denn aus ihnen zieht ihr Waffen und spielbare Charaktere. Ihr spielt schließlich nicht nur einen einzelnen Helden, sondern stellt euch eine Party aus vier Recken zusammen. Da Genshin Impact ein Action-Kampfsystem hat, steuert ihr immer nur eine Figur, wechselt aber mitten in Gefechten (und auch außerhalb davon) auf Knopfdruck den Charakter.
Um euch "Wünsche" zu kaufen, die es sowohl einzeln als auch im Zehnerpack gibt, benötigt ihr Urgestein, das ihr wiederum im Tausch gegen Schöpfungskristalle bekommt. Diese Steinchen gibt es aber nur für echte Moneten. Ist Genshin Impact also ein Pay-to-Win-Spiel? Den Eindruck könnte man haben, aber zumindest diesbezüglich kann ich, soweit ich das bislang einschätzen kann, Entwarnung geben.
Genshin Impact hat weder einen PvP-Modus noch irgendwelche Ranglisten. Es gibt keinen Wettstreit mit anderen Spielern, im Grunde handelt es sich sogar um eine Einzelspielererfahrung. Es gibt zwar einen Koop-Modus, den schaltet ihr aber erst nach mehreren Spielstunden frei. Unklar ist nur, ob im Endgame irgendwelche knüppelharten Herausforderungen lauern, die nur mit den besten und mitunter auch seltensten Helden zu schaffen sind. Und ein Charakter mit fünf Sternen (übrigens gibt es nur 4- und 5-Sterne-Figuren) ist tatsächlich sehr selten. Die Chance, einen solchen beim Gebet, wie der Vorgang heißt, zu erhalten, liegt bei unter einem Prozent.
Ein Designproblem
Die Gefahr, dass jemand unüberlegt Hunderte Euro in Genshin Impact steckt, weil er unbedingt diesen einen Charakter haben möchte, ist groß. Die Glücksspielanleihen sind definitiv da, das lässt sich nicht leugnen, auch wenn es eigentlich keinen Grund gibt, Geld auszugeben. Denn – das ist immerhin die eine gute Nachricht – Urgestein erspielt ihr euch und das am laufenden Band. Ihr bekommt es unter anderem als Belohnung für manche Story-Quest, wenn ihr Kisten in der Spielwelt öffnet, tägliche Missionen erfüllt, Errungenschaften (Achievements) erhaltet, über den Battle Pass (auch den kostenlosen) und wenn ihr im sogenannten "Gewundenen Abgrund", einem mehrstöckigen Dungeon, Erfolge feiert.
Ich habe nicht das Gefühl, dass es in Genshin Impact notwendig ist, Geld auszugeben, wenn ihr einfach nur die Story erleben und die Welt in Gänze erkunden wollt. Der Schwierigkeitsgrad ist bislang auch viel zu niedrig, als dass ich mir denken würde, dass ich irgendwelche besonders starken Helden oder Waffen benötige. Nichtsdestotrotz gibt es Figuren, die ich haben möchte, weil ich etwa ihr Design mag. Doch ich kann nicht gezielt auf sie hinarbeiten, sondern muss dafür erst jede Menge Urgestein farmen und dann ganz viel Glück beim Beten haben. Und wenn eine Lootbox-Mechanik Teil der Progression ist, finde ich das immer furchtbar. Es geht mir gar nicht mal so sehr um die Monetarisierung, sondern um das Gamedesign, das durch diesen Zufallsfaktor enorm in Mitleidenschaft gezogen wird.
Großer Spaß für Entdecker
Ich hätte genug Gründe, Genshin Impact als mieses Gacha-Spiel zu bezeichnen und einfach links liegen zu lassen. Dennoch mache ich das nicht, sondern spiele derzeit kaum etwas anderes. Ich denke oft genug während der Arbeit an das Spiel, auch wenn ich nicht gerade einen Artikel dazu schreibe. Ich kann es kaum abwarten, nach Hause zu kommen und weiter zu zocken. Das hat verschiedene Gründe.
Punkt 1 und mit am wichtigsten ist die Spielwelt. Genshin Impact ist einfach ein hervorragendes Open-World-Spiel. Sich von The Legend of Zelda: Breath of the Wild inspirieren zu lassen (oder eben viel davon abzuschauen), ist nicht das Schlechteste, was miHoYo hätte machen können – man kann auch sehr viel miesere Vorbilder haben. Genshin Impact sieht nicht nur so aus wie Breath of the Wild und erinnert mit einzelnen Elementen frappierend daran, sondern bietet fast genauso große Erkundungsanreize. Die Welt ist zwar noch nicht so riesig wie Hyrule (von den geplanten sieben Regionen sind derzeit nur zwei im Spiel), aber sie ist vollgestopft mit kleinen Rätseln, Geheimnissen, gegnerischen Camps, Ressourcen, Dungeons und Weltbossen.
Die Brillanz seines Vorbilds erreicht Genshin Impact nicht, weil es nicht so viele Physikspielereien gibt und sich häufiger gewisse Elemente wiederholen. Aber es entwickelt sich ein schöner Spielfluss, weil ich ständig über Dinge stolpere. Oft genug kommt es zu diesen "Oh, da hinten sehe ich was Interessantes"-Momenten – dazu, dass ich vom Pfad zum nächsten Questziel flott abweiche. Ablenkungen gibt es in Hülle und Fülle.
Simple, aber fetzige Kämpfe
Punkt 2 ist das Gameplay. Zunächst wirkt das Kampfsystem sehr simpel. Es gibt eine Angriffstaste, die ihr entweder mehrfach drückt für normale Attacken oder gedrückt haltet, um einen schweren Schlag auszuführen. Dazu gesellen sich noch pro Charakter eine Elementar- und eine Spezialfähigkeit. Erstere hat eine Abklingzeit von wenigen Sekunden, letztere lädt sich auf, indem ihr Elementarenergie von getöteten Gegnern aufsaugt. Zudem könnt ihr ausweichen und Sprungattacken ausführen und es macht natürlich einen Unterschied, ob ihr einen Nah- oder Fernkämpfer spielt. Es gibt aber keine Kombos im klassischen Sinne.
Für spielerische Tiefe sorgt eben, dass ihr bis zu vier Charaktere in eurer Gruppe habt, zwischen denen ihr jederzeit im Kampf wechseln könnt und deren Elementarfähigkeiten sich verketten lassen. Ein Beispiel: Mit dem Kryo-Kämpfer Kaeya friert ihr eure Gegner ein, wechselt dann auf den Pyro-Charakter Bennett und lasst das Eis mit Flammen schmelzen, was Extraschaden verursacht. Wie gesagt, bislang empfinde ich den Schwierigkeitsgrad als recht niedrig, sodass es nicht zwingend nötig ist, großen Wert auf jene Elementarreaktionen zu legen. Aber weil das alles fantastisch animiert und daher sehr befriedigend ist, macht es jede Menge Spaß, die Fähigkeiten der Helden zu kombinieren.
Und das ist kostenlos?!
Punkt 3 ist allgemein der Aufwand, den miHoYo betreibt und wie Genshin Impact einfach insgesamt wirkt. Es ist kein Free-to-Play-Spiel wie jedes andere und schon gar nicht vergleichbar mit sonstigen Gacha-Spielen, die ja vor allem auf den Mobilgeräten weitverbreitet sind. Man merkt dem Titel an, dass er nicht in erster Linie dazu da ist, Geld per Mikrotransaktionen zu generieren. Natürlich soll er das, denn miHoYo hat das Spiel ja nicht bloß aus Freude an der Kunst entwickelt und veröffentlicht. Was ich damit meine: Das Spiel dreht sich nicht zu 100 Prozent um seine Monetarisierung, sondern will in erster Linie ein gutes Open-World-Action-RPG sein, das sich aber auch irgendwie finanzieren muss.
Die meisten Gacha-Spiele sind in meinen Augen billig produziert, haben ein mieses Gameplay und ziehen ihren Reiz einzig und allein aus dem Sammelaspekt, der die Spieler zum Geldausgeben anstiften soll. Auf Genshin Impact trifft das nicht zu, hier macht das eigentliche Spiel sehr viel Spaß – und es ist hochwertig produziert. Es gibt eine richtige Story mit Zwischensequenzen und vollvertonten Dialogen (englische, japanische, koreanische oder chinesische Sprachausgabe, aber mit deutschen Untertiteln). Die Sprecher machen ihre Sache sogar recht gut (auch wenn ich Paimon am liebsten das Klo runterspülen würde – nerviges kleines Drecksviech!).
Klammern wir mal die Gacha-Elemente und den In-Game-Shop aus, wirkt Genshin Impact überhaupt nicht wie ein Free-to-Play-Spiel – erst recht nicht wie eines aus China, das von einem Entwickler stammt, der in erster Linie für Mobilegames bekannt ist. Auch Genshin Impact ist ja auf iOS und Android spielbar, wobei ich mir angesichts der tollen Optik (auch noch ein wichtiger Punkt) kaum vorstellen kann, dass es primär für Smartphones und Tablets entwickelt wurde. Mal ernsthaft: Das Ding sieht wirklich toll aus, man muss halt nur was mit dem Anime-Look anfangen können. Aber dass die Welt total schön aussieht und tolle Panoramen bietet sowie die Charaktere liebevoll gestaltet und fantastisch animiert sind, lässt sich nicht abstreiten. Und die Effekte im Kampf machen, wie bereits erwähnt, einiges her.
Ich bin zerrissen
Ihr seht: Ich mag Genshin Impact eigentlich sehr. Ich halte es sogar im Bezug auf seine Open World für eines der besten Spiele der jüngeren Vergangenheit. Hier macht das Erkunden richtig Spaß, was ich von so vielen AAA-Blockbustern nicht behaupten kann. Und die Aussicht, dass dieses Singleplayer-Erlebnis mit künftigen Updates immer mehr ausgeweitet wird, weil neue Regionen, Quests und Co hinzukommen (kostenlos!), gefällt mir sehr. Aber das Gacha-System werde ich immer verabscheuen, egal wie sehr ich mich darüber freue, wenn ich einen 5-Sterne-Helden ziehe (was heute geschehen ist und mich wirklich gefreut hat). Nur, weil ich mich von dem System manipulieren lasse, weil es natürlich Endorphinausschüttungen hervorruft, heißt das noch nicht, dass ich es auch gut finde.
Genshin Impact wäre ein so viel besseres Spiel, wenn ich es für 60 Euro kaufen müsste, dafür aber alle Charaktere im Verlauf der Story freischalten oder als Belohnungen für Nebenquests erhalten würde. Und das Geld wäre es allemal wert! Nun hat sich miHoYo für ein anderes Geschäftsmodell entschieden, das mir in der Form nicht zusagt. Aber trotzdem kann ich nicht anders, als mich heute Abend wieder in die Welt zu stürzen. Es gibt schließlich noch so viel zu entdecken und zu tun, das kann ich ja nicht einfach unangetastet lassen. Ach Mann, ich hasse dieses Spiel! Aber ich liebe es auch!