Yeah, endlich eine richtige Open World! Sind Pokémon Karmesin und Purpur damit die Generation, die wir uns immer gewünscht haben? Nein, dazu fehlt noch eine ganze Menge.
Pokémon Karmesin und Purpur im Test: Große Freiheit in öder Welt
Ich bin es mittlerweile echt leid. Seit dem Release der Nintendo Switch warte ich auf das Pokémon-Spiel meiner Träume: ein 3D-Abenteuer in einer interessanten Open World mit coolen Multiplayer-Funktionen und haufenweise Taschenmonstern zum Fangen, Sammeln und Aufleveln, aber auch einfach nur zum Beobachten. Ich warte auf das Spiel, in dem die mal kleinen, mal großen Wesen nicht einfach nur ziellos umherlaufen und bloß dazu da sind, damit ich sie bekämpfen beziehungsweise meiner Sammlung hinzufügen kann, sondern sich wirklich wie echte Tiere verhalten. Kein Spiel der Switch-Ära hat mir diese Erfahrung bislang geboten. Pokémon Karmesin und Purpur sollten meine Wünsche (und die vieler anderer Spieler) endlich erfüllen. Na ja, zumindest versprach Game Freak eine waschechte Open World. Warum die einerseits ein großer Fortschritt, zugleich aber auch ein großer Schwachpunkt der neunten Generation ist, erkläre ich euch im Test.
Buenos días!
Wie sich das für eine neue Generation von Pokémon-Spielen gehört, entführen euch Pokémon Karmesin und Purpur in eine neue Region. Die hört auf den Namen Paldea und ist an die Iberische Halbinsel beziehungsweise Spanien angelehnt. Es gibt weite Wiesenlandschaften, hohe Berge, eine Wüste, eine Schneeregion – genug optische Abwechslung ist vorhanden. Ihr seid ein neuer Schüler an der Trauben-Akademie, die jedes Jahr eine große Schatzsuche veranstaltet. Dabei geht es jedoch nicht darum, eine mit einem X markierte Stelle zu finden und eine mit Gold gefüllte Kiste auszugraben. Das Ganze ist eher metaphorisch zu verstehen.
Die Story von Pokémon Karmesin und Purpur spaltet sich nach einem recht ausgiebigen Tutorial in drei Questreihen auf. Der „Weg des Champions“ dreht sich um die klassische Pokémon-Erfahrung: Acht Arenaorden warten darauf, von euch errungen zu werden. Habt ihr sie alle beisammen, dürft ihr euch in der Pokémon-Liga beweisen. Die „Straße der Sterne“ befasst sich mit Team Star, der neuen bösen Organisation, deren Basen ihr stürmen sollt. Zu guter Letzt gibt es noch den „Pfad der Legenden“. Hier sucht ihr nach Geheimgewürzen und müsst euch dabei den sogenannten Herrscher-Pokémon stellen: sehr großen Versionen bekannter Monster. Von keinem der drei Handlungsstränge solltet ihr eine tiefgründige Geschichte erwarten. Pokémon Karmesin und Purpur bewegen sich hier auf dem bekannten Niveau der Reihe: Die Charaktere und (wieder mal nicht vertonten) Dialoge haben zwar durchaus ihren Charme, die Storys sind aber allesamt ziemlich belanglos und nicht der Grund, warum ihr die Reise nach Paldea antreten solltet.
Freiheit, Freiheit ist das Einzige, was zählt
Die große Besonderheit von Pokémon Karmesin und Purpur ist die spielerische Freiheit, die euch Game Freak gewährt. Zum ersten Mal erkundet ihr eine richtige Open World. In Pokémon-Legenden: Arceus sind es ja noch einzelne, wenn auch sehr weitläufige Gebiete gewesen, Paldea ist eine zusammenhängende Karte. Die steht euch nach dem Tutorial auch mehr oder weniger komplett offen und ihr könnt frei entscheiden, auf welchen der drei Story-Pfade ihr euch zunächst konzentrieren möchtet. Alle relevanten Orte sind auf der Weltkarte markiert und ihr dürft sie in beliebiger Reihenfolge ansteuern.
Allerdings gibt es kein Level-Scaling. In vielem Gebieten werdet ihr also zu Beginn auf zu starke Pokémon sowie Trainer treffen, so dass es eben doch eine empfohlene Reihenfolge für die ganzen Arenen, Team-Star-Basen und Herrscher-Pokémon gibt. Dass euch Game Freak aber an dieser Stelle die Freiheit lässt, selbst zu entscheiden, wann ihr euch einer bestimmten Herausforderung stellen möchtet, finde ich klasse. Dadurch ist es möglich, euch selbst härtere Kämpfe zu bereiten, indem ihr etwa einen Arenaleiter herausfordert, dessen Pokémon einige Levels über den euren sind. Nehmt ihr es wiederum mit Gegnern auf, die auf eurem Niveau sind, sind Pokémon Karmesin und Purpur zuweilen wieder zu einfach.
Abwechslung vermisst
Die spielerische Qualität der drei Story-Pfade schwankt. Die Arenakämpfe sind stets mit ein wenig Vorarbeit verbunden. Die Arenen selbst sind jedoch nicht mehr kleine Dungeons wie in alten Serienteilen. Stattdessen erwarten euch Arenaprüfungen unterschiedlicher Art. In Moldrid zum Beispiel müsst ihr eine riesige aufblasbare Olive einen Parcours entlang rollen. In einem anderen Fall steht wiederum ein simpler Botengangauftrag an. Dennoch ist der „Weg des Champions“ noch der beste Teil der Story-Kampagne von Pokémon Karmesin und Purpur.
Die „Straße der Sterne“ ist fast schon ein Totalausfall, denn die Erstürmung jeder Basis von Team Star folgt dem gleichen Muster: Ihr müsst innerhalb eines Zeitlimits 30 Pokémon eines bestimmten Typs besiegen, kämpft dabei aber nicht selbst. Stattdessen schmeißt ihr den Gegnern einfach eines eurer Monster vor die Füße und die Kämpfe laufen automatisch ab. Wenn das gutes Gameplay sein soll, bin ich der Kaiser von China. Immerhin wartet am Ende jeder Basis ein normales Duell mit dem jeweiligen Anführer auf euch. Der „Pfad der Legenden“ hat ebenfalls das Problem, dass er recht eindimensional ist. Es geht eben immer nur darum, ein großes Herrscher-Pokémon zu bekämpfen. Immerhin schaltet ihr über diese Missionen neue Fortbewegungsmöglichkeiten für euer Reittier frei.
Das Cover-Pokémon gibt’s diesmal schon zum Spielstart
Moment, Reittier? Ja, in Pokémon Karmesin und Purpur erhaltet ihr schon früh im Spiel ein legendäres Pokémon. Im Fall von Karmesin ist es Koraidon, in Purpur wird Miraidon euer treuer Begleiter. Das jeweilige Geschöpf lässt sich jedoch erst mal nicht im Kampf einsetzen. Dafür ruft ihr es jederzeit per Knopfdruck und springt auf seinen Rücken, um schneller von A nach B zu gelangen (es gibt aber auch eine Schnellreisefunktion). Anfangs ist das Ganze noch recht eingeschränkt, doch je mehr Herrscher-Pokémon ihr besiegt, desto mehr praktischer wird Koraidon respektive Miraidon. So lernt es etwa zu schwimmen, zu klettern und sogar durch die Gegend zu gleiten (Breath of the Wild lässt grüßen). So erreicht ihr dann auch Orte der Spielwelt, die anfangs noch unzugänglich sind.
Leider ist die Open World von Pokémon Karmesin und Purpur alles andere als ein Highlight. Außer den Pokémon selbst gibt es so gut wie nichts zu entdecken. Klar, überall finden sich Items, aber die wirken komplett wahllos in der Gegend verteilt. Interessante Orte abseits der Story-Schauplätze gibt es so gut wie gar nicht. Ihr werdet in Paldea keine cool designten Dungeons oder versteckte Nebenquests finden. Hier verschenkt Game Freak enorm viel Potenzial.
Immerhin funktioniert die Sache mit dem Sammeltrieb. Noch während des Tutorials wirft euch das Spiel bereits etliche Pokémon vor die Füße und die Wahrscheinlichkeit, dass ihr vom Weg zur Akademie abkommt und erst mal eine Stunde querfeldein lauft, um alle euch fehlenden Monsterchen zu fangen, ist groß. „Oh, sieh mal da! Das Pokémon kenne ich noch gar nicht. Was ist das? … Oh, da vorne sehe ich ein Enton. Das muss ich haben! … Oh, Junge, ein Karpador! Gleich mal fangen und an die erste Stelle meines Teams setzen, damit es fleißig Erfahrungspunkte sammelt und ich frühestmöglich ein Garados habe.“ So in etwa würde ich die ersten ein bis zwei Stunden meiner Erfahrung zusammenfassen. Nur hätte es allen dafür die Open World gebraucht? Sicherlich nicht. Ich möchte nicht sagen, dass Game Freak darauf hätte verzichten sollen. Aber wenn man eben eine offene Welt baut, dann sollte man die auch mit interessanten Inhalten abseits der Hauptgeschichte füllen. Die Pokémon allein reichen mir da nicht aus.
Bekannte gute Kost trifft auf Neuerungen der Marke „Na ja“
Die vielen, vielen Monster in Pokémon Karmesin und Purpur und das unverändert gebliebene, aber nach wie vor gut funktionierende Kampfsystem reichen aber sehr wohl aus, dass mir meine Streifzüge durch Paldea trotzdem Spaß machen. Den Pokédex zu füllen, die Wesen aufzuleveln und sich entwickeln zu lassen sowie ständig an meiner Teamzusammenstellung zu feilen, ist wie eh und je ein großer Motivationsfaktor. Das Kern-Gameplay von Pokémon bleibt auch in der neunten Generation einfach gut.
Natürlich gibt es auch diesmal wieder ein besonderes Feature, das den Kämpfen mehr taktische Würze verleihen soll. Auf die Dynamaximierung von Schwert und Schild folgt die Terakristallisierung. Nun könnt ihr eure Monster nicht mehr enorm groß werden, sondern eine kristalline Form annehmen lassen. In dem Zustand verursachen die Attacken des Tera-Typs des jeweiligen Pokémon deutlich mehr Schaden. Der Haken dabei: Ihr könnt zwischen jedem Stopp an einem Pokémon-Center nur einmal ein Monster „terakristallisieren“. Die Absicht von Game Freak dahinter ist klar: Ihr sollt euch gut überlegen, wann und mit welchem eurer Tierchen ihr dieses Feature nutzt. Sofern ihr euch aber eben nicht Gegnern stellt, die über eurem Level sind, spielt die Terakristallisierung in der Regel keine Rolle, weil ihr sie gar nicht nötig habt. Somit verkommt das Ganze wie die Dynamaximierung zu einem Gimmick. Ist nett, macht das Spiel aber nicht besser.
Ähnliches lässt sich auch über den Koop-Modus. Es ist nett, dass ihr zum ersten Mal mit bis zu drei Freunden durch die Spielwelt ziehen und gemeinsam nach Pokémon suchen könnt, die euch noch in der Sammlung fehlen. Abseits der Tera-Raids, wo ihr gegen mächtige Monster in Terakristallform kämpft (was die die Dynamax-Raids aus Schwert und Schild funktioniert), gibt es jedoch keine weiteren Koop-Mehrspieler-Inhalte. Ihr könnt zum Beispiel nicht die Story gemeinsam erleben. Jeder macht die Missionen für sich allein in seiner eigenen Instanz. Vielleicht liefert Game Freak mit kommenden Updates ja noch weitere Beschäftigungsmöglichkeiten für den Koop-Modus nach, zum jetzigen Zeitpunkt ist er aber eben auch nicht viel mehr als ein Bonus, der dem Spiel keinen wirklichen Mehrwert verleiht.
Game Freak, was stimmt nicht mit dir?!
Kommen wir aber mal endlich zum Elefanten im Raum: Pokémon Karmesin und Purpur sind hässlich und noch dazu technisch vollkommen unausgegoren. Ich habe mich schon bei Pokémon-Legenden: Arceus gefragt, wie es denn nur sein kann, dass unter dem Banner der größten Entertainment-Marke der Welt ein Spiel erscheint, das absolut grauenvoll aussieht und sogar von vielen Indie-Titeln auf technischer Ebene überflügelt wird. Mit Karmesing und Purpur unterbietet Game Freak das sogar nochmal. Die Modelle von Charakteren und Pokémon sehen ja noch ganz gut aus und überzeugen vor allem auf Design-Ebene. Viele der neuen Monster sind wirklich cool gestaltet. Aber davon abgesehen?
Kantenglättung? Kennt Game Freak scheinbar nicht. Alles, wirklich ALLES flimmert in Pokémon Karmesin und Purpur. Die Texturen sehen so aus, als stammen sie aus der PS1-Ära. Die Umgebungen sind karg und viel zu oft darf man beobachten, wie Animationen mit nicht mal ansatzweise der vollen Bildrate abgespielt werden – und da rede ich nicht nur von Charakteren und Objekten in weiter Ferne. Oh nein! Es gibt eine Zwischensequenz in der Akademie, in der ihr eurer Klasse vorgestellt werden. Alle Mitschüler lassen dabei ihre Füße baumeln und in jedem einzelnen Fall ruckelt diese Animation. In einer Zwischensequenz! In einem kleinen Klassenraum! Was zur Hölle?!
Apropos Ruckler: Davon gibt es in Pokémon Karmesin und Purpur jede Menge. Das Spiel sieht also nicht nur grottenschlecht aus, es läuft auch noch nicht mal mit stabilen 30 Bildern die Sekunde. Und nein, das hat nichts damit zu tun, dass die Switch eine leistungsschwache Konsole ist. Nochmal zur Erinnerung: Breath of the Wild ist ein Launch-Titel gewesen, sieht um Welten besser aus, hat selbst eine riesige Open World, die viel detaillierter ist und läuft wesentlich flüssiger. Und ich könnte noch andere Beispiele wie The Witcher 3 und die Xenoblade-Titel nennen. Es tut mir leid, aber was Game Freak hier abliefert, ist mal wieder an Peinlichkeit kaum zu überbieten. Und die vielen Glitches und Bugs, die Pokémon Karmesin und Purpur bieten, machen es nicht wirklich besser. Diese Spiele sind alles andere als in optimiertem, fertigem Zustand erschienen. Aber sie mussten wohl unbedingt pünktlich zum Weihnachtsgeschäft auf den Markt geschmissen werden.
Fazit
Ich finde es gut, dass sich Game Freak endlich mal getraut hat, die übliche Struktur der Hauptteile der Reihe aufzubrechen. Die offene Welt und die nichtlineare Kampagne sind an sich eine Bereicherung. Leider haben die Entwickler aber vergessen, die Paldea-Region abseits der Hauptquests mit interessanten Inhalten zu füllen. Wem das reine Fangen und Sammeln von Pokémon als Motivation, jeden Winkel der Karte zu besuchen, nicht ausreicht, wird schnell Langeweile verspüren.
Darüber hinaus sind Pokémon Karmesin und Purpur technisch schlicht eine Zumutung und sowohl der Koop-Modus als auch die Terakristallisierung keine Features, die die Spielerfahrung merklich bereichern. Ja, das Kernkonzept der Serie funktioniert wieder ziemlich gut, aber mir ist das mittlerweile zu wenig. Selbst ohne die schlechte technische Umsetzung wären Pokémon Karmesin und Purpur nur solide. Meine Bitte an Game Freak: Lasst euch für Generation 10 viel Zeit, schnappt euch am besten die Leute von Monolith Software, wie es einst Nintendo bei Breath of the Wild gemacht hat, und serviert uns dann die Pokémon-Open-World-Erfahrung, die sich so viele schon so lange wünschen.
- Erhöhte spielerische Freiheit
- Sehr viele Pokémon zum Sammeln
- Kämpfe machen Spaß wie eh und je
- Cooles Reittier-Feature
- Technisch einfach nur mies
- Öde Open World
- Koop-Modus verschenkt viel Potenzial
- Wenig Abwechslung beim Missionsdesign
- “Straße der Sterne” besonders langweilig